Exkurs/Vertiefung:
Maßgeblich sind also folgende Kriterien
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privatrechtlicher Vertrag |
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Kein Werkvertrag (§ 631 BGB, Erfolg geschuldet) und kein Auftrag (§ 662 BGB, unentgeltlich) |
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persönliche Abhängigkeit, d.h. Weisungsgebundenheit (§ 611a I 1–4 BGB), insbesondere Weisungsgebundenheit nach Zeit, Ort, Art und Weise der Tätigkeit (§ 611a I 2 BGB) |
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tatsächliche Eingliederung in den fremden Betrieb, d.h. Fremdbestimmung (§ 611a I 1 BGB) |
Das BAG zieht auch § 84 I 2 HGB zur Abgrenzung heran. Damit ist Arbeitnehmer, wer seine Tätigkeit nicht im Wesentlichen frei gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Selbstständig sei dagegen, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.
Im vorliegenden Fall ist A jedoch Versicherungsvertreterin. Damit ist § 84 I HGB als speziellere Norm anwendbar. Es kommt damit maßgeblich auf die von dieser Norm genannten Voraussetzungen an. Nach diesen ist Arbeitnehmer, wer seine Tätigkeit nicht im Wesentlichen frei gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Selbstständig sei dagegen, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.
Exkurs/Vertiefung:
Da das BAG schon immer § 84 I 2 HGB für die Definition des Arbeitnehmerbegriffs entsprechend heranzog, dürften sich in der Sache zwischen der Prüfung von § 84 BGB und der von § 611a BGB keine Unterschiede ergeben.
2. Bedeutung des Vertrags und der tatsächlichen Vertragsdurchführung
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Für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft ist zunächst von dem zwischen den Vertragsparteien geschlossenen Vertrag auszugehen. Nach diesem Vertrag ist A als selbstständige Versicherungsvertreterin zu qualifizieren. Dies entspricht dem ausdrücklich erklärten Willen beider Vertragsparteien. Umfassende Weisungsrechte, wie sie im Arbeitsverhältnis, d. h. im Verhältnis zu angestellten Außendienstmitarbeitern, üblich sind, wurden nicht vereinbart. A hätte danach den Status einer Selbstständigen.
Etwas anderes könnte sich aber aus der Veränderung der Vertragsdurchführung ab Januar 2017 ergeben. Zwar haben die Vertragsparteien den Vertrag nicht ausdrücklich geändert. Nach Ansicht des BAG ist jedoch auf die tatsächliche Vertragsdurchführung abzustellen, wenn sich diese und die vertragliche Vereinbarung widersprechen.[8] Diese Rechtsprechung findet sich nunmehr auch in § 611a I 6 BGB gesetzlich verankert.
Diese Grundsätze gelten auch bei einem sog. Statuswechsel von der Selbstständigen- zur Arbeitnehmereigenschaft.[9]
Entscheidend ist also, ob nach der tatsächlichen Vertragsdurchführung A als Arbeitnehmerin anzusehen ist. Dabei kommt es auf eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls an;[10] diese Vorgabe findet sich nunmehr auch in § 611a I 5 BGB.
3. Gesamtwürdigung der Umstände
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Zunächst sprechen gegen die Arbeitnehmereigenschaft der A eine offenbar bestehende fachliche Weisungsfreiheit sowie ein Restbestand an Freiheit, die Tätigkeit nach eigenem Willen zu gestalten.
Für die Arbeitnehmereigenschaft der A sprechen dagegen folgende Indizien:
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Die starke Eingebundenheit durch die Terminvorgaben der V. Diese führen zu einer örtlichen und vor allem zeitlichen Weisungsunterworfenheit. Bei zehn Besuchsaufträgen pro Tag dürfte der überwiegende Teil der Arbeitstätigkeit durch V gesteuert werden, auch wenn einige Aufträge kein persönliches Treffen mit dem Kunden erfordern. |
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Die Informationspflichten gegenüber V. Diese ermöglichen eine umfassende Kontrolle der A. Für den Selbstständigen ist es jedoch typisch, dass er keiner Kontrolle unterliegt. |
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Eine weitere örtliche und zeitliche Eingebundenheit entsteht durch die Pflicht der A, an wöchentlichen Besprechungen, Schulungen und Messeveranstaltungen teilzunehmen. |
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Auch die Genehmigungspflicht für Urlaube stellt ein Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft dar. |
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Die Pflicht zur Anzeige von Krankmeldungen ist nur ein schwaches Indiz, da V auch bei selbstständigen Handelsvertretern ein Interesse daran hat, dass die Kunden durchgehend betreut werden. |
Nach einer Literaturansicht soll in dieser Frage außerdem beachtlich sein, dass ein Einfirmenvertreter zwar ein unternehmerisches Risiko trage, aber nur geringe unternehmerische Chancen habe.[11] A kann im Rahmen ihrer Vermittlungstätigkeit nur „Produkte“ der V anbieten. Außerdem hat sie keine eigenen Mitarbeiter.
Entscheidend ist hier insgesamt die starke zeitliche Weisungsgebundenheit der A durch die Terminvorgaben der V, so dass insgesamt die Arbeitnehmerstellung der A zu bejahen ist.
II. Unzulässige Rechtsausübung
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Nach Ansicht der Rechtsprechung kann der Berufung auf die Arbeitnehmereigenschaft jedoch der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) entgegenstehen, wenn für den Vertragspartner ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Dies soll z. B. der Fall sein, wenn der sog. Statuskläger eine frühere Statusklage zurückgenommen hat, nach erfolgreicher Statusklage ein freies Mitarbeiterverhältnis vereinbart hat oder den Abschluss eines Arbeitsvertrages jahrelang abgelehnt hat.[12] Ein vergleichbarer Fall liegt hier jedoch nicht vor. Nach Ansicht der Rechtsprechung genügt es nicht, dass ein Vertrag über selbstständige Tätigkeit abgeschlossen wurde und der vergütungsmäßigen Behandlung als Selbstständiger nicht widersprochen wurde.[13]
A hat den Status einer Arbeitnehmerin. Folglich steht ihr ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung gem. § 3 EFZG zu. Die Höhe bestimmt sich nach § 4 des Gesetzes.
Die Klage der A auf Entgeltfortzahlung hat damit Aussicht auf Erfolg.
[1]
Fall in Anlehnung an BAG (Urt. v. 20.8.2003) NJW 2004, 461, und BAG (Urt. v. 15.2.2005) AP Nr. 60 zu § 5 ArbGG 1979.
[2]
BAG (Beschl. v. 24.4.1996) AP Nr. 1 zu § 2 ArbGG 1979 Zuständigkeitsprüfung; BAG (Beschl. v. 24.4.2018), noch n.v. Bei Arbeitnehmerähnlichkeit BAG (Beschl. v. 19.12.2000) AP Nr. 8 zu § 2 ArbGG 1979 Zuständigkeitsprüfung.
[3]
BAG (Beschl. v. 10.12.1996) AP Nr. 4 zu § 2 ArbGG 1979 Zuständigkeitsprüfung; Germelmann/Matthes/Prütting/ Schlewing , ArbGG § 2 Rz. 164.
[4]
Vgl. BAG (Urt. v. 15.2.2005) AP Nr. 60 zu § 5 ArbGG 1979.
[5]
Germelmann/Matthes/Prütting/ Schlewing , ArbGG § 2 Rz. 44.
[6]
BAG (Urt. v. 2.10.1990) AP Nr. 1 zu § 12a TVG.
[7]
BAG (Urt. v. 20.8.2003) NJW 2004, 461 f.; BAG (Beschl. v. 26.10.2002) AP Nr. 83 zu § 2 ArbGG 1979.
[8]
BAG (Urt. v. 20.8.2003) NJW 2004, 461 f.; BAG (Urt. v. 15.12.1999) AP Nr. 9 zu § 84 HGB.
[9]
Nicht aber umgekehrt, BAG (Urt. v. 12.9.1996) AP Nr. 1 zu § 611 BGB Freier Mitarbeiter; LAG Düsseldorf v. 21.2.2005 – 14 Sa 1878/04, n.v.. Wer ausdrücklich als Arbeitnehmer eingestellt wurde, darf auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses vertrauen, vgl. Tillmanns , RdA 2015, 285, 287.
[10]
BAG (Urt. v. 20.8.2003) NJW 2004, 461 f.; BAG (Urt. v. 15.12.1999) AP Nr. 9 zu § 84 HGB.
[11]
Wank , DB 1992, 90.
[12]
BAG (Urt. v. 11.12.1996) AP Nr. 36 zu § 242 BGB Unzulässige Rechtsausübung – Verwirkung; BAG (Urt. v. 12.8.1999) AP Nr. 41 zu § 242 BGB Unzulässige Rechtsausübung – Verwirkung.
[13]
BAG (Urt. v. 4.12.2002) AP Nr. 1 zu § 333 ZPO.
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