In den Vertragsverhandlungen hatte V der A angeboten, sie könne auch als angestellte Außendienstmitarbeiterin tätig werden. A hatte dies ausdrücklich abgelehnt; sie wolle nicht sozialversicherungspflichtig werden.
Im Jahre 2016 erleidet V einen wirtschaftlichen Einbruch. Sie beschließt, stärker Einfluss auf die Versicherungsvertreter zu nehmen. In Bezug auf A ergreift V folgende Maßnahmen: Seit Januar 2017 schickt V an A regelmäßig Besuchs- und Inkassoaufträge sowie Terminlisten. In den Schreiben sind jeweils der Kunde, die Auftragsart und ein Termin genannt. Durchschnittlich sind etwa zehn Besuchsaufträge pro Tag zu absolvieren. Die meisten Aufträge erfordern einen Besuch beim Kunden, einige können auch telefonisch oder schriftlich erledigt werden. Über das Ergebnis hat A die V schriftlich zu informieren. A ist verpflichtet, an wöchentlichen Besprechungen sowie an Schulungen teilzunehmen und Messestände der V zu besetzen. Krankmeldungen hat sie bei V einzureichen. Urlaub muss von V genehmigt werden.
Die Geschäfte gehen zunehmend schlechter. In den letzten sechs Monaten hat A nur durchschnittlich 900,– € im Monat verdient.
Den Verdienst für den Monat Januar 2019 i. H. v. 880,– € hat V bisher nicht ausbezahlt. A erhebt daraufhin Klage vor dem Arbeitsgericht. V meint, das Gericht sei für A gar nicht zuständig und beantragt Klageabweisung.
Frage 1:Ist die Klage der A auf Zahlung von 880,– € gegen V zulässig?
Weiter möchte A Urlaub machen und zwar den gesamten Monat Februar 2019. Sie meint, wenn V den Urlaub schon genehmige, könne sie ihr auch den durchschnittlichen Monatslohn weiterzahlen. V ist damit einverstanden, dass A „Urlaub macht“, er lehnt die Zahlung jedoch ab. A erhebt vor dem Arbeitsgericht Klage auf Entgeltfortzahlung für den Monat Februar.
Frage 2:Wird die Klage erfolgreich sein?
Im März erkrankt A für eine Woche. Auch für diese Zeit möchte sie den anteiligen Monatslohn von V. Wiederum erhebt sie Klage vor dem Arbeitsgericht.
Frage 3:Wird die Klage erfolgreich sein?
Bearbeitervermerk:
Die Fragen sind in der vorgegebenen Reihenfolge zu beantworten.
2. Teil Klausurfälle› Fall 1 Mehr Schein als Sein› Vorüberlegungen
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I. |
Die Klausur besteht aus drei Fragen. Der Bearbeitervermerk gibt hier die Reihenfolge zwingend vor. Allerdings ist es auch ohne einen solchen Hinweis in aller Regel sinnvoll, die vom Klausurersteller vorgegebene Reihenfolge einzuhalten. |
II. |
In Frage 1 wird nur nach der Zulässigkeit, in den Fragen 2 und 3 nach den Erfolgsaussichten der Klagen gefragt, so dass hier jeweils Zulässigkeit und Begründetheit der Klage zu prüfen sind. Die Zulässigkeit von Klagen vor dem Arbeitsgericht gehört grundsätzlich auch zum Prüfungsstoff für die Erste Juristische Prüfung. In der Regel gilt es dabei nur, besonders relevante Abweichungen des ArbGG von der ZPO zu beachten. |
III. |
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2. Teil Klausurfälle› Fall 1 Mehr Schein als Sein› Gliederung
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Frage 1: |
Klage der A auf Lohnzahlung |
A. |
Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten/Sachliche Zuständigkeit |
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I. |
Arbeitnehmereigenschaft als sog. doppelrelevante Tatsache? |
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II. |
Arbeitnehmereigenschaft oder § 5 III ArbGG? |
B. |
Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen |
C. |
Ergebnis |
Frage 2: |
Klage der A auf Urlaubsentgelt |
A. |
Zulässigkeit |
B. |
Begründetheit |
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I. |
Voraussetzungen aus § 1 BUrlG |
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II. |
Entgeltfortzahlung |
Frage 3: |
Klage der A auf Entgeltfortzahlung für die Woche krankheitsbedingter Nichtarbeit |
A. |
Zulässigkeit |
B. |
Begründetheit |
|
I. |
Arbeitnehmerbegriff |
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1. |
Abgrenzungskriterien |
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2. |
Bedeutung des Vertrags und der tatsächlichen Vertragsdurchführung |
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3. |
Gesamtwürdigung der Umstände |
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II. |
Unzulässige Rechtsausübung |
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III. |
Rechtsfolge |
C. |
Ergebnis |
2. Teil Klausurfälle› Fall 1 Mehr Schein als Sein› Lösung
Lösung[1]
Frage 1: Klage der A auf Lohnzahlung
Zu prüfen ist lediglich, ob die Klage der A auf den ausstehenden Lohn i. H. v. 880,– € zulässigist.
A. Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten/Sachliche Zuständigkeit
I. Arbeitnehmereigenschaft als sog. doppelrelevante Tatsache?
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Die Zulässigkeit setzt insbesondere die Eröffnung des Rechtsweges zu den Arbeitsgerichten und damit deren (ausschließliche) sachliche Zuständigkeit voraus. Nach § 2 I Nr. 3 lit. a) ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus dem Arbeitsverhältnis.
Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage könnte also sein, dass A Arbeitnehmerin ist.
Möglicherweise kann die gem. § 5 ArbGG zu prüfende Arbeitnehmereigenschaft der A im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung jedoch dahinstehen. Nach der Rechtsprechung des BAG brauchen die Voraussetzungen des § 5 ArbGG nicht festzustehen (d. h. unbestritten oder bewiesen sein), wenn es sich um sog. doppelrelevante Tatsachen handelt. Dies ist gegeben, wenn sich der eingeklagte Anspruch ausschließlich auf eine Anspruchsgrundlage stützen lässt, deren Prüfung in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gem. § 2 ArbGG fällt (sog. Sic-non-Fall, z. B. Kündigungsschutzklage).[2] Da hier die maßgeblichen Tatsachen gleichzeitig Voraussetzung für die Begründetheit sind, kommt eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Rechtswegs nicht in Betracht. Daher genügt für die Zuständigkeit bereits die Rechtsansicht des Klägers.
Vorliegend macht A jedoch einen Vergütungsanspruch geltend. Der Vergütungsanspruch ergibt sich bei einem Arbeitsvertrag aus § 611a II BGB und bei seinem (selbstständigen) Dienstvertrag aus § 611 II BGB, wobei nur entweder ein Arbeitsvertrag oder ein selbstständiger Dienstvertrag vorliegen kann. Beide möglichen Anspruchsgrundlagen schließen sich gegenseitig aus. A ist entweder unselbstständige Dienstverpflichtete, also Arbeitnehmerin, oder selbstständige Dienstverpflichtete, hier als selbstständige Handelsvertreterin. Damit handelt es sich um einen sog. Aut-aut-Fall. In einem solchen Fall müssen grundsätzlich bereits in der Zuständigkeitsprüfung die Voraussetzungen des § 5 ArbGG geprüft werden. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass das Arbeitsgericht über einen rechtswegfremden Anspruch zu entscheiden hätte („Rechtswegerschleichung“).
Exkurs/Vertiefung:Neben den Sic-non- und den Aut-aut-Fällen gibt es die seltenen Et-et-Fälle, in denen sich der Anspruch auf eine arbeitsrechtliche und auf eine nicht arbeitsrechtliche Anspruchsgrundlage stützen lässt, wobei sich beide Anspruchsgrundlagen nicht ausschließen. Das BAG nimmt dies an, wenn sich der Dienstverpflichtete gegen eine außerordentliche Kündigung gem. § 626 BGB wehrt.[3]
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