[10]
Vgl. EuGH (Urt. v. 9.9.2003) Slg. 2003 I, 8349 (Rz. 33 ff.) – Rinke; EuGH (Urt. v. 23.10.2003) Slg. 2003 I, 12575 (Rz. 71 ff.) – Schönheit.
2. Teil Klausurfälle› Fall 3 Gehaltsgalopp
Inhaltsverzeichnis
Vorüberlegungen
Gliederung
Lösung
Repetitorium
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Der ehemalige Landwirt G hat seinen Gutshof zu einem großen Reitstall umgebaut. Der Betrieb floriert. G hat mehrere Arbeiter, Bürokräfte und Reitlehrer eingestellt. Da ihm Anfang 1999 die Arbeit über den Kopf wächst, sucht er nach einem erfahrenen Reitlehrer, der den anderen Angestellten vorgesetzt sein und die Koordination und Gehaltsabrechnungen übernehmen soll. In R findet er den geeigneten Bewerber. Da er die üblichen Verträge, die er mit den anderen Mitarbeitern abschließt, im Falle von R nicht für geeignet hält, sucht er seinen Rechtsanwalt auf. Mit diesem zusammen entwirft er einen Vertrag, den er am nächsten Tag R vorlegt. In diesem am 14.12.1999 geschlossenen Vertrag heißt es:
„… 3.2. R erhält ein Monatsgehalt von 3000,– € sowie eine Zulage von 600,– € brutto. G hat das Recht, die Zulage jederzeit unbeschränkt zu widerrufen. …“
G erklärt R klipp und klar, dass der Vertrag so bleibe, wie er sei. Raum für Diskussionen bestehe nicht. R ist einverstanden und unterschreibt.
Seit dem Jahr 2009 zahlt G der gesamten Belegschaft darüber hinaus jeweils 1000,– € Weihnachtsgeld zusammen mit der Lohnauszahlung im Dezember. Auf der Lohnabrechnung vom Dezember 20014 findet sich erstmals ein handschriftlicher Vermerk:
„Die Zahlung des Weihnachtsgeldes ist eine freiwillige Leistung und begründet keinen Rechtsanspruch!“
Auch in den folgenden Jahren wird dieser Vermerk auf den Lohnabrechnungen, die auch das Weihnachtsgeld enthalten, wiederholt. Die Belegschaft reagiert nicht auf diese Vermerke. Anfang November 2018 übergibt G dem R dann folgendes Schreiben:
„Sehr geehrter Herr R, leider gehen die Anmeldungen für Reitkurse zurück. Der Betrieb wirft daher zurzeit keinen Gewinn ab. Aus diesem Grunde bin ich gezwungen, die Zulage i. H. v. 600,– € zum 1.12.2018 zu widerrufen. Auch Weihnachtsgeld werde ich in diesem Jahr keines auszahlen können. Sicher haben Sie für diese Maßnahmen Verständnis. MfG G“
R hat wenig Verständnis. Er hat sich gerade ein Einfamilienhaus gekauft und eine Familie gegründet. Bei seiner Kalkulation hat er ein Bruttogehalt von 3600,– € zugrunde gelegt. Von dem Weihnachtsgeld wollte er mit seiner Familie in Skiurlaub fahren.
Frage 1:Hat R Anspruch auf Zahlung der monatlichen Zulage i. H. v. 600,– €?
Frage 2:Hat R Anspruch auf Zahlung des Weihnachtsgelds i. H. v. 1000,– €?
Bearbeitervermerk:
Der Lösung ist das geltende Recht zugrunde zu legen. Fragen des Übergangsrechts (Art. 229 § 5 EGBGB) sind nicht zu untersuchen.
2. Teil Klausurfälle› Fall 3 Gehaltsgalopp› Vorüberlegungen
43
I. |
Im Fall geht es nicht nur um die Anwendung geltenden Rechts, sondern um die Frage, inwieweit das geltende Recht durch vertragliche Bestimmungen geändert werden kann. Das Arbeitsrecht ist in der Regel einseitig (d. h. für den Arbeitgeber) zwingend und kann allenfalls durch Tarifvertrag zu Lasten des Arbeitnehmers geändert werden. Sofern jedoch die gesetzlichen Bestimmungen auch für den Arbeitgeber disponibel sind, stellt sich die Frage, ob eine sog. Klauselkontrolle nach den §§ 305 ff. BGB vorgenommen werden muss. |
II. |
Mit der Schuldrechtsmodernisierung hat der Gesetzgeber die Kontrolle von Arbeitsbedingungen durch die §§ 305 ff. BGB angeordnet. Dadurch hat sich die Rechtsprechung des BAG zu typischen und in Arbeitsverträgen seit jeher verwendeten Klauseln vielfach geändert. |
III. |
Die Kontrolle gemäß der §§ 305 ff. BGB ist zunächst eine zivilrechtliche und damit nicht eine speziell arbeitsrechtliche Materie. Daher lassen sich Probleme aus diesem Bereich tendenziell gut in Klausuren auch außerhalb eines Schwerpunktstudiums einbauen, da erwartet wird, dass der Studierende auch ohne vertiefte Kenntnisse im Arbeitsrecht den Prüfungsaufbau bewerkstelligen kann. Dem Studierenden sollte das Prüfungsschema der §§ 305 ff. BGB daher bekannt sein. |
2. Teil Klausurfälle› Fall 3 Gehaltsgalopp› Gliederung
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Frage 1: |
Anspruch des R auf Zahlung der monatlichen Zulage i. H. v. 600,– € |
A. |
Widerrufserklärung |
B. |
Widerrufsrecht |
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I. |
Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB |
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1. |
§ 310 IV 2 BGB |
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2. |
Kontrollfähigkeit der Klausel |
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a) |
Allgemeine Geschäftsbedingung |
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b) |
Verbrauchervertrag |
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c) |
Einbeziehung in den Vertrag |
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3. |
Unwirksamkeit gem. §§ 307, 308 Nr. 4 BGB |
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|
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a) |
§ 307 III 1 BGB, Abweichung von Rechtsvorschriften |
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|
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b) |
§ 308 Nr. 4 BGB |
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c) |
§ 307 I 2 BGB Transparenzgebot |
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II. |
Ergebnis zu B. |
C. |
Ergebnis zu Frage 1 |
Frage 2: |
Anspruch des R auf Zahlung von Weihnachtsgeld i. H. v. 1000,– € |
A. |
Anspruch aus betrieblicher Übung |
B. |
Erlöschen des Anspruchs |
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I. |
Einseitige Erklärung des G |
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II. |
„Negative“ betriebliche Übung |
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1. |
Vertragsänderung |
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2. |
Kontrolle gem. §§ 307, 308 Nr. 5 BGB |
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a) |
§ 310 IV 2 BGB |
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b) |
Allgemeine Geschäftsbedingung |
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c) |
Einbeziehung in den Vertrag |
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3. |
Ergebnis zu II. |
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III. |
Ergebnis zu B. |
C. |
Ergebnis zu Frage 2 |
2. Teil Klausurfälle› Fall 3 Gehaltsgalopp› Lösung
Lösung
Frage 1: Anspruch des R auf Zahlung der monatlichen Zulage i. H. v. 600,– €
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R könnte gegen G einen Anspruch auf Zahlung der monatlichen Zulage i. H. v. 600,– € gem. § 611a II BGB i. V. m. Satz 1 der Klausel 3.2. des Arbeitsvertrages haben.
G und R haben den Arbeitsvertrag wirksam geschlossen. Anhaltspunkte dafür, dass Satz 1 der Klausel 3.2. des Arbeitsvertrages unwirksam sein könnte, bestehen nicht.
Exkurs/Vertiefung:Nach der Fallfrage ist auf die Zulässigkeit einer etwaigen Klage nicht einzugehen. R könnte grundsätzlich eine Leistungs- oder eine Feststellungsklage erheben. Allerdings wäre eine Feststellungsklage gem. § 256 I ZPO, § 46 II 1 ArbGG nur zulässig, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse bestünde. Soweit R unproblematisch eine Leistungsklage erheben kann, ist das nicht der Fall. Das Begehren des R ist jedoch nicht nur auf eine Zahlung für die vergangenen Monate gerichtet, sondern auch auf die Weiterzahlung der Zulage in der Zukunft.[1] Fraglich ist, ob eine Klage auf zukünftiges Entgelt, also auf eine zukünftige Leistung, erhoben werden kann. Diese führte zu einem vollstreckbaren Urteil, obwohl zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht feststeht, ob die zukünftigen Ansprüche des R jemals entstehen und fällig werden. Das Gesetz sieht grundsätzlich für zukünftige Leistungen in §§ 257, 258 ZPO vor, dass die Leistung nicht von einer Gegenleistung abhängig sein darf. Davon macht § 259 ZPO eine Ausnahme für den Fall, dass zu befürchten ist, der Schuldner werde sich der Leistung entziehen. Dafür genügt es, wenn der Schuldner die Ansprüche bestreitet.[2] Allerdings setzt § 259 ZPO voraus, dass der Anspruch bereits entstanden sei. Dies erfordert nach Ansicht des BAG für den Lohnanspruch, dass die Arbeitsleistung bereits erbracht wurde.[3] Diese Schwierigkeiten lassen sich vermeiden, indem R eine Feststellungsklage erhebt.
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