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Zwischen dem Verkehrsverstoß, der grundsätzlich das fahrlässige Handeln indiziert, und dem Tod des Opfers muss nicht nur Kausalität i.S.d. Äquivalenzformel, sondern auch der sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhangbestehen. Dieser ist zu verneinen, wenn der Unfall – z.B. wegen eines schuldhaften Verhaltens des Opfers – auch bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre. Berücksichtigt man den Grundsatz „in dubio pro reo“, kann der Pflichtwidrigkeitszusammenhang schon dann nicht angenommen werden, wenn lediglich nicht ausgeschlossenwerden kann, dass die Folgen auch bei verkehrsgerechtem Verhalten (rechtmäßigem Alternativverhalten)eingetreten wären.[37]
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Die Tatsache, dass ein erheblich angetrunkener Kraftfahrereinen tödlichen Unfall verursacht, bedeutet deshalb nicht in jedem Falle, dass ihm die Unfallfolgen auch zugerechnet werden, da ungeachtet der Fahruntüchtigkeit das alleinige Verschulden am Zustandekommen des Unfalles beim Unfallgegner liegen kann, etwa beim entgegenkommenden Mofafahrer, der plötzlich in die Fahrbahn des angetrunkenen Kraftfahrers gerät. Jedoch muss ein alkoholbedingt fahruntüchtiger Kraftfahrer, der entgegen § 316 StGB am Verkehr teilnimmt, die Geschwindigkeit seiner herabgesetzten Reaktionsfähigkeit jedenfalls so anpassen, dass er keinen längeren Anhalteweg benötigt als ein nüchterner Fahrer.[38]
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Ähnlich verhält es sich beim Fahren mit Reifen ohne Profil. Wird mit solchen Reifen auf trockener Fahrbahn gebremst, verbessert sich die Bremswirkung, d.h. der Verstoß gegen § 36 Abs. 2 Satz 3 StVZO kann im Ausnahmefall bessere Bremsbedingungen schaffen; wer seine Geschwindigkeit dem schlechten Reifenzustand anpasst, kann nicht wegen mangelnder Bereifung für einen Unfall verantwortlich sein.[39]
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Bei der Vermeidbarkeitsbetrachtungwird auch der Frage nachgegangen, ob es auch zur Kollision gekommen wäre, wenn der entsprechende Fahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit bzw. eine der Situation angemessene Geschwindigkeit eingehalten hätte. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist dann zu bejahen, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, wäre der Fahrzeugführer bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation nicht mit einer höheren als der zugelassenen bzw. der Situation angemessenen Geschwindigkeitgefahren. Bei der Prüfung relevanter Fälle ist zwischen der räumlichen und zeitlichen Vermeidbarkeit[40] zu unterscheiden: Bei der Frage der räumlichen Vermeidbarkeitwird der Frage nachgegangen, ob der Fahrzeugführer mit seinem Fahrzeug bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu seinem Reaktionspunkt noch rechtzeitig vor dem Kollisionsort hätte den Stillstand erreichen können. Die zeitliche Vermeidbarkeitbeurteilt die Frage, ob ein Fahrzeugführer, der gegenüber dem tatsächlichen Annäherungsvorgang mit geringerer Geschwindigkeit fährt, aufgrund des dabei entstehenden Zeitgewinns nicht in den Bewegungsraum des Unfallgegners geraten wäre.
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Praxishinweis
Um eine Vorstellung vom Ablauf eines Verkehrsunfalls zu erhalten und festzustellen, unter welchen Umständen dieser hätte vermieden werden können, muss die Entwicklung des Unfalls zu rekonstruiert werden. Ein Unfallanalytikerist in der Lage, die Bewegungen der Unfallbeteiligten in Beziehung zu setzen und zu untersuchen, wer in welcher Zeit welche Strecke zurückgelegt hat und wo sich die Unfallbeteiligten zur jeweiligen Zeit befunden haben. Diese Vermeidbarkeitsbetrachtunglässt sich am besten in einem Weg-Zeit-Diagramm[41] veranschaulichen, in das bspw. im Laufe der Gerichtsverhandlung gewonnene neue Erkenntnisse meist ohne großen Aufwand eingearbeitet werden können. Neuere Softwareermöglicht es gar, den (ungefähren) Unfallhergang wie einen Film abspielen zu lassen, was insbesondere in schwer vorstellbaren Unfallkonstellationen hilfreich ist. Auch dort, wo Schöffen Teil des Spruchkörpers sind erscheint eine solche Rekonstruktion durchaus sachgerecht. Es muss aber zugleich gesagt werden, dass ein filmisches Geschehen dem menschlichen Auge eine Klarheit des Unfallherganges „vorgaukeln“ kann. Oftmals stellt sich das Unfallgeschehen bei nur geringen Änderungen der eingegebenen Parameter in einem solchen filmischen Ablauf ganz anders da – derartige Alternativgeschehen müssen erfragt/herausgearbeitet werden. Der Verteidiger sollte also die Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion im Hinterkopf behalten.
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Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten ist für die Erfolgszurechnung über die kausale Verursachung i.S.d. Äquivalenztheorie und des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges hinaus erforderlich, dass der Erfolg in den Schutzbereich der verletzten Sorgfaltsnormfällt. Wird z.B. eine Geschwindigkeitsbeschränkung nur deshalb angeordnet, um der durch einen neuen Fahrbahnbelag erhöhten Rutschgefahr entgegenzuwirken, ist damit nicht bezweckt, dem Einmündungsverkehr das Einfahren auf die Landstraße zu erleichtern. Kommt es in diesem Fall bei dem Einbiegen eines Fahrzeugführers zu einem tödlichen Unfall, so muss trotz überhöhter Geschwindigkeit des auf der Landstraße fahrenden Angeklagten eine Zurechenbarkeit verneint werden, wenn sich ein tödlicher Unfall auf einem nicht mehr neuen, normalen Fahrbahnbelag bei ansonsten unveränderten Umständen in gleicher Weise ereignet hätte.[42]
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Bei der Bearbeitung von Unfällen mit tödlichem Ausgang sollte auch berücksichtigt werden, dass in Ausnahmefällen scheinbare Verkehrsopfer den Freitod gesucht haben. Mindestens 1 bis 2 % aller Straßenverkehrsunfälledürften einen suizidalen Hintergrundhaben.[43] Hier sind etwa in den letzten Jahren so genannte „Geisterfahrer“ in den Blick der Öffentlichkeit gelangt.
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Praxishinweis
Der Verteidiger sollte in geeigneten Fällen, etwa bei entsprechenden Hinweisen von Hinterbliebenen, durch eine verkehrstechnische Prüfung klären lassen, ob sich der Verdacht auf einen suizidalen Hintergrund erhärten lässt. Auch können hier Nachforschungen bei den umliegenden Gerichten nach Betreuungs- oder Unterbringungsverfahren für die zu Tode gekommene Person helfen. Wird ein Unfallrekonstruktionsgutachten eingeholt, so sollte der Sachverständige ausdrücklich nach nicht plausiblen oder nicht erklärbaren Verhaltensweisen des Geschädigten fragen. Auch derartige Gesichtspunkte können auf einen Suizid (jedenfalls als Unfallmitursache) hinweisen.
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Bei der Prüfung der Rechtswidrigkeitist Folgendes zu beachten: Handelt es sich bei dem Getöteten um einen Beifahrer bzw. sonstigen Fahrzeuginsassen, der die Defizite des Fahrers (z.B. den Grad der Trunkenheit) oder Fahrzeugs kannte, könnte man an Straflosigkeit nach dem Gesichtspunkt der eigenverantwortlichen Einwilligung des (einsichtsfähigen) Opfers denken. Eine Risikobereitschaft, die sogar den Tod in Kauf nähme, kann jedoch in diesen Fällen nicht unterstellt werden, so dass die eigenverantwortliche Entscheidung der Inkaufnahme der Gefahr durch das spätere Tatopfer nicht die Strafbarkeit gem. § 222 StGB beseitigt. Begründet wird das mit der Sittenwidrigkeit der Einwilligung in die Lebensgefährdung(§ 228 StGB). Diese Rechtsprechung stuft also die Tötung des Beifahrers als strafbare „einverständliche Fremdgefährdung“ein, im Gegensatz zur straflosen „Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung“.[44]
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Die Rechtsprechung, die bei Mitwirkung an Selbstgefährdungenim Zusammenhang mit Rauschmitteln den Vorwurf der fahrlässigen Tötung zurückweist,[45] wurde vom BayObLG, [46] das den Fall eines tödlichen Unfalles durch Überlassens eines Mopeds mit einer defekten Vorderradbremse zu entscheiden hatte, aufgegriffen. Zutreffend wird in dieser Entscheidung darauf hingewiesen, dass die Strafbarkeit desjenigen, der den Akt der Selbstgefährdung fördert, erst dann beginnt, wenn er erkennt, dass das Opfer die Tragweite seines Entschlusses nicht überblickt, während er selbst kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende.
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