Hinzu kommt, dass sich die Gesetzesauslegung bei schon älteren Gesetzen von den konkreten Zweckerwägungen der Entstehungszeit lösen kann. Dies geschieht mit Hilfe der These, Erkenntnisziel der Gesetzesauslegung sei nicht der Wille des historischen Gesetzgebers(subjektive Theorie), sondern der Wille des Gesetzes(objektive Theorie). Dabei ist die Vorstellung maßgebend, das Gesetz entfalte, wenn es einmal in Kraft gesetzt ist, einen eigenen, von der Autorität des historischen Gesetzgebers sich ablösenden Regelungswillen. Folglich wird die Bedeutung der Gesetzesmaterialien umso leichter zurückgedrängt, je älter ein Gesetz geworden ist.
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Bei Anwendung der Lückentheorie( Rn 101) stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen man annehmen kann, der Gesetzgeber habe die Besonderheit einer Fallkonstellation unberücksichtigt lassen wollen (dann keine Lücke, Umkehrschluss) oder unwillentlich nicht bedacht (dann mögliche Lücke und Analogie). Die Rechtsprechung greift auf die Lückentheorie letztlich dann zurück, wenn sie ein vom Gesetz abweichendes Ergebnis für angemessen hält und methodisch nur so zum Ziele kommt. An feste Regeln zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Analogie lassen sich die Gerichte schwerlich binden. Darin liegt auch eine Gefahr für die Rechtssicherheit und das Prinzip der Gewaltenteilung.
Besondere Bedeutung für die Anwendung zivilrechtlicher Gesetze hat schließlich das Verständnis der im GG verbürgten Grundrechte als einer Wertordnung, die Gesetzgebung wie Rechtsprechung bindet ( Rn 84). Aus dieser Warte lässt sich der Geltungsanspruch zivilrechtlicher Vorschriften entweder zurückweisen (verfassungswidriges Gesetz) oder relativieren („verfassungskonforme Auslegung“).
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So ergibt sich heute das Bild einer mit dem Gesetz verhältnismäßig frei umgehenden Rechtsprechung, die das Gesetz nicht nur interpretiert, sondern auch ergänztund gelegentlich korrigiert. Ergänzung und Korrektur des Gesetzes werden als richterliche Rechtsfortbildung gerechtfertigt. Dabei werden meist die Elemente der juristischen Methodenlehre herangezogen. In manchen Entscheidungen lösen sich die Gerichte in einer bemerkenswert offenen Weise von einer geschlossenen Methodik.
Beispiel:
Bis zum Jahr 2009 war gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, ob ein Betreuer (§ 1896 I) einer gerichtlichen Genehmigung bedarf, wenn er im Namen des Betreuten die Einwilligung in eine lebenserhaltende ärztliche Maßnahme verweigern will („Sterbehilfe“). Das Erfordernis einer gerichtlichen Genehmigung hat der BGH mit folgender Begründung bejaht: „Die Fortbildung des Rechts ist eine Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes und wird ständig geübt ... Sie ergibt sich vorliegend aus einer Gesamtschau des Betreuungsrechts und dem unabweisbaren Bedürfnis, mit den Instrumenten dieses Rechts auch auf Fragen im Grenzbereich menschlichen Lebens und Sterbens für alle Betroffenen rechtlich verantwortbare Antworten zu finden“ (BGHZ 154, 205, 221). Letztlich wird die richterliche Normschöpfung aus dem Bedürfnis für eine bestimmte Regelung hergeleitet. Zum heutigen Rechtszustand vgl. § 1904 II.
6. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft
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Die Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung als Faktoren der Normbildung darf nicht vergessen machen, dass eine „dritte Kraft“ am Rechtsschöpfungsprozess beteiligt ist: die Rechtswissenschaft. Vorbei sind freilich die Zeiten, da das Rechtssystem hauptsächlich ein Produkt wissenschaftlicher Begriffs- und Systembildung war. So war die Lage nach der Rezeption des römischen und der Ausfaltung des „gemeinen Rechts“ (ius commune), als die Juraprofessoren, meist zugleich auch Richter, das Zivilrecht beherrschten. Auch im 19. Jahrhundert, als es in einigen Staaten bereits kodifiziertes Zivilrecht gab, war die normative Autorität der Rechtswissenschaft noch ungebrochen. Mit dem Inkrafttreten des BGB und einer explosionsartigen Vermehrung der Gesetzgebung im 20. Jahrhundert ergab sich ein Funktionswandel der Rechtswissenschaft.
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Soweit es um ihre Teilnahme der Wissenschaft an der Normbildung geht, stehen folgende Aufgaben im Vordergrund:
(1) Die Rechtswissenschaft hat an der Normenbildung in der Weise Anteil, dass sie die Mängel des geltenden Rechts aufdecktund Reformbedürfnisse erkennt und formuliert. Die dazu nötige kritische Distanz zu den jeweils geltenden Rechtsvorschriften gewinnt die Rechtswissenschaft durch die Bildung von Rechtsbegriffen und Regeln, mit deren Hilfe die in der Realität gegebenen Sachprobleme adäquat erfasst und bewältigt werden können. Dazu bieten die Rechtstheorie (Rechtsphilosophie), die Rechtssoziologieund die Rechtsgeschichteunverzichtbare Grundlagen. Ein wesentliches Erkenntnismittel bietet auch die Rechtsvergleichung, die – wie die anderen genannten Fächer – deutlich macht, dass der Inhalt der aktuell geltenden Gesetze nicht selbstverständlich oder naturnotwendig ist, sondern aus kulturellen, nationalen und historischen Zusammenhängen, manchmal auch aus bloßen Zufällen erklärt werden kann. Zur notwendigen Erfassung der zu ordnenden Realität ist die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften(Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Naturwissenschaften) von großem Nutzen. Die Politik anerkennt die Mitwirkung der Rechtswissenschaft an der Normbildung zB durch Einladungen zu parlamentarischen Anhörungen und zur Teilnahme an Expertenkommissionen, die mit der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben betraut sind.
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(2) Die Rechtswissenschaft unterstütztauch die Rechtsprechung. Wenn auch letztlich die Gerichte entscheiden, so ist es doch hilfreich, wenn die Auslegungsmöglichkeiten der Rechtsvorschriften bereits in der wissenschaftlichen Literatur ausgelotet sind. Funktion der Wissenschaft ist es demnach auch, durch Interpretation der Gesetze und Erfassung der Konfliktlagen den Gerichten Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen und Entwürfe für Konfliktlösungen liefern. Die Rechtswissenschaft hat gegenüber der Gerichtsbarkeit gleichzeitig die kritische Aufgabe, die richterlichen Entscheidungen auf ihre innere Logik, Übereinstimmung mit dem Gesetz und sachliche Überzeugungskraft zu überprüfen. Die Gerichte sehen sich so einem Widerhall ihrer Rechtsfindung gegenüber, die auf ihre Rechtsauffassungen zurückwirkt.
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(3) Besonders dringende Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, dahin zu wirken, dass bei der immensen Masse des Rechtsstoffsein einigermaßen stimmiges und logisches Rechtssystemerhalten bleibt. Unsere Rechtordnung ist in der Gefahr, durch ständig vermehrte Detailregelungen zerfasert zu werden, bis zu dem Punkt, dass niemand mehr den Überblick behalten kann. An der Wissenschaft liegt es, dafür zu sorgen, dass die verwendete Terminologie und die benutzten Rechtsfiguren im Einklang mit der allgemeinen Rechtssprache und rechtlichen Systematik bleiben. So besteht eine wesentliche Aufgabe der Wissenschaft darin, den gesamten Rechtsstoff in einen möglichst stimmigen System-, Begriffs- und Anschauungszusammenhang zu bringen (Dogmatik).
Literatur zur juristischen Methodenlehre:
C.-W. Canaris/K. Larenz , Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995; C.-W. Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983; W. Fikentscher , Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bde, 1975–1977; C. Höpfner , Die systemkonforme Auslegung, 2008; F. Müller/R. Christensen , Juristische Methodik, Bd. 1, 11. Aufl. 2013; H.-M. Pawlowski , Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999; J. Schapp , Methodenlehre und System des Rechts, 2009. Zur Einführung: K. Adomeit/S. Hähnchen , Rechtstheorie für Studenten, 6. Aufl. 2012; F. Bydlinski , Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Aufl. 2011; K. Engisch , Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005; 11. Aufl. bearb. Th. Würtenberger/D. Otto , 2010; E. A. Kramer , Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2013; M. Wienbracke , Juristische Methodenlehre, 2013; R. Zippelius , Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012; B. Rüthers/Chr. Fischer/A. Birk , Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 8. Aufl. 2015; E. Picker , Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, 1, 62; B. Rüthers , Wozu auch noch Methodenlehre? JuS 2011, 865; Th. Wischmeyer , Der „Wille des Gesetzgebers, JZ 2015, 957.
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