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Der Unterschied zwischen den Normen des Zivilrechts und des öffentlichen Verwaltungsrechts liegt darin, für wen und gegenüber wem sie Rechtswirkungen anordnen (Adressaten der Rechtsfolgen). Man vergleiche folgende Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) vom 19. Dezember 1952:
§ 3 I 1: Erweist sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen.
§ 2 I 1: Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf der Erlaubnis (Fahrerlaubnis) der zuständigen Behörde (Fahrerlaubnisbehörde).
§ 7 I: Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug mitgeführt zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.
Diese Vorschriften ordnen Rechtsfolgen an, die sich aus bestimmten Tatbeständen ergeben. Die Vorschriften unterscheiden sich jedoch in der Frage, wen die Rechtsfolgen treffen und im Verhältnis zu wem sie eintreten :
§ 3 I 1 ordnet eine Rechtsfolge (Pflicht) für eine Verwaltungsbehörde gegenüber einer beliebigen Person an: Sie hat ihr den Führerschein zu entziehen, wenn sie sich als ungeeignet erweist.
§ 2 I 1 ordnet eine Rechtsfolge für eine beliebige Person an, nämlich das Verbot, ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Straßen ohne behördliche Erlaubnis zu führen. Es handelt sich um eine Rechtsfolge, die im Verhältnis zu den staatlichen Behörden eintritt, welche die Einhaltung des Verbots zu überwachen haben.
§ 7 I ordnet eine Schadenersatzpflicht im Verhältnis beliebiger Personen untereinander an.
Die Folgerung liegt nahe: § 7 I StVG bildet einen Rechtssatz des Zivilrechts; die §§ 3 I 1 und 2 I 1 StVG sind Rechtssätze des öffentlichen Rechts. Wir könnten demnach versuchen, die Regel wie folgt zu formulieren: Öffentlich-rechtlich sind solche Rechtssätze, die entweder Rechtsfolgen für eine Körperschaft/Anstalt des öffentlichen Rechts oder für eine beliebige Person gegenüber einer solchen Körperschaft/Anstalt anordnen.
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Die Sache kompliziert sich durch den erwähnten Umstand, dass die Personen des öffentlichen Rechts auch wie Privatpersonen im Geschäftsverkehr auftreten und dann nach Zivilrecht behandelt werden. Die Rechtsfolgen, die durch die öffentlich-rechtlichen Normen ausgesprochen werden, betreffen folglich die öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten nur, soweit sie als Hoheitsträgeragieren. Es kommt hinzu, dass der Staat in einigen Bereichen auch privatrechtlich organisierten Unternehmen hoheitliche Funktionen zur Ausübung überträgt („beliehene Unternehmen“). Folglich ist die Regel derart zu verallgemeinern, dass man für „Körperschaft und Anstalt des öffentlichen Rechts“ den Begriff „Hoheitsträger“ setzt. Die Definition lautet dann: Die Normen des öffentlichen Rechts ordnen Rechtsfolgen für Hoheitsträger oder für beliebige Personen im Verhältnis zu Hoheitsträgern an.Unter Hoheitsträgern verstehen wir dabei (1) Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, außer wenn sie „als Privatleute“ auftreten; (2) sonstige Personen, soweit ihnen ausnahmsweise Hoheitsbefugnisse eingeräumt sind.
Zur Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht ist aus dem römischen Recht folgender Satz überliefert: publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem pertinet ( Ulpian , Digesten 1, 1, 1, 2). Diese Aussage ist heute nicht mehr brauchbar. Denn auch das Privatrecht dient nach unserem Verständnis nicht nur dem Einzelinteresse, sondern auch dem Funktionieren des Ganzen, das öffentliche Recht umgekehrt will nach sozialstaatlichem Verständnis auch dem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben sichern.
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Obwohl sie unterschieden werden müssen, bilden öffentliches Recht und Zivilrecht nicht etwa völlig isolierte Bereiche, die nichts miteinander zu tun haben. Vielmehr sollen die unterschiedlichen Normkomplexe zusammen genommen eine einheitliche, widerspruchsfreie Rechtsordnungergeben. Soweit sie das Handeln der Individuen und Gruppen regeln, treffen öffentliches und bürgerliches Recht in denselben Lebenssachverhalten aufeinander und verfolgen dabei oft ähnliche Regelungsziele, freilich mit verschiedenen Mitteln. Daher kann die Rechtslage, die für ein sachliches Problem besteht, nur dann richtig erfasst werden, wenn man Zivilrecht und öffentliches Recht und ihre Wechselwirkungen zusammen betrachtet. Der Inhalt des Grundeigentums kann zB nur dann vollständig erkannt werden, wenn man seine öffentlich-rechtlichen Beschränkungen berücksichtigt, auf die § 903 BGB nur pauschal verweist („soweit nicht das Gesetz entgegensteht“).
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Im BGB finden sich einige Vorschriften, die das Zivilrecht ausdrücklich mit anderen Regelungsgebieten verzahnenund so auch bestimmten Normen des öffentlichen Rechts zivilrechtliche Wirkungen zumessen:
(1) Nach § 134 BGBist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig, wenn sich aus dem Gesetz nicht ein anderes ergibt. Als Verbotsgesetze kommen auch Vorschriften des öffentlichen Rechts in Betracht (Näheres Rn 663 ff).
(2) Nach § 823 IItrifft denjenigen eine Pflicht zum Schadensersatz, der gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt und dadurch den Geschützten schädigt. Schutzgesetz in diesem Sinne können auch Vorschriften des öffentlichen Rechts sein.
Für die Lösung eines bürgerlich-rechtlichen Streits ist also nicht selten die Zuziehung von öffentlich-rechtlichen Vorschriften nötig.
Zur Problematik siehe die Beiträge in: W. Hofmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1995; W. Leisner , Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht, JZ 2006, 869.
Teil I Grundlegung› Kapitel 5 Zur Methode der Gesetzesauslegung
Kapitel 5 Zur Methode der Gesetzesauslegung
Inhaltsverzeichnis
1. Gesetzesanwendung und Normenbildung
2. Die Auslegung von Gesetzen
3. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln
4. Umkehrschluss, Analogie, teleologische Reduktion
5. „Richterliche Rechtsfortbildung“
6. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft
1. Gesetzesanwendung und Normenbildung
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Wie gezeigt ( Rn 19) ist in unserer vom Gesetzesrecht geprägten Rechtsordnung das Gesetz der Ausgangspunkt für die zivilrechtlichen Entscheidungen. Das Gesetz enthält aber die Wertungsmaßstäbe nicht vollständig und ist demzufolge als Rechtsnorm noch unfertig. Die Rechtsprechung und die ihr zur Seite stehende Wissenschaft wirken daher an der Rechtsnormenbildung mit. Durch Rechtsanwendung und Interpretation geben sie den gesetzlichen Bestimmungen eine deutlichere Gestalt. Bei der Anwendung von Gesetzen ergibt sich die Rechtsnorm als Obersatz erst aus einem Zusammenwirken von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft.
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Die Auffassungen vom Verhältnis von Gesetzgebung und Gesetzesauslegung waren im Verlauf der Geschichte einem erheblichen Wandel unterworfen. Aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus stammt die Vorstellung, den Gerichten stehe – zumindest in aller Regel – überhaupt keine Teilnahme an der Rechtsnormenbildung zu. Danach sind die Konfliktentscheidungen im Gesetz schon vollständig enthalten und brauchen folglich dem Gesetz nur entnommen zu werden (Gesetzespositivismus). Diese Auffassung steht im Zusammenhang mit der Schaffung systematischer Gesetzbücher seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ( Rn 24), mit denen man glaubte, ein für alle Bürger verständliches Recht schaffen zu können. Dabei fürchteten die Verfasser der Gesetzeswerke, die Rechtsgelehrten und Gerichte könnten ihre Bemühungen um vernünftige und klare Regeln durch beliebige Auslegung zunichtemachen. Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) war daher sowohl der Autorität der Juraprofessoren als auch der Rechtsschöpfung durch Richter abgeneigt: „Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter, soll, bei künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden“ (Einleitung § 6); der Richter soll sich an das Gesetz halten und Zweifel über den Sinn des Gesetzes von einer Gesetzeskommission beurteilen lassen (§§ 47, 48). Eine derartige Deutung des Verhältnisses von Gesetz und Richter war auch auf demokratische Systeme übertragbar: Die auf demokratische Weise zustande gekommenen Gesetze lassen sich als Ausdruck des Volkswillens begreifen, an dem ein beamtetes Richtertum nichts zu deuteln hat. Die Idealvorstellung von unzweideutigen Gesetzen, die für alle künftig vorkommenden Fälle eine klare Regelung enthalten, erwies sich indes als Illusion. Die Wirklichkeit ist immer vielfältiger, als der planende Geist sich ausdenken kann; sie ist zudem steten und raschen Veränderungen unterworfen, mit denen die Gesetzgebung nicht immer Schritt hält. Deshalb ließ sich der Gesetzespositivismus nicht halten. Doch war es dann nötig, Regeln zu entwickeln, die den Umgang der Gesetzesinterpreten mit dem Gesetz an methodische Regeln binden, um eine willkürliche Handhabung zu verhindern.
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