2. Die Auslegung von Gesetzen
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In einem demokratischen System ist es Pflicht der Gerichte, durch sorgfältige Auslegung des Gesetzesdie verbindliche Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zu erfassen und in der Streitentscheidung nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck sind in der juristischen MethodenlehreAuslegungselemente entwickelt worden, über deren Zahl, Art und Stellenwert freilich keine Einigkeit besteht.
Im Anschluss an Savigny unterscheidet man
(1) ein grammatischesAuslegungselement, das die Bedeutung der Gesetzesworte in Verbindung mit der Gesetzes- und der allgemeinen Rechtssprache beleuchtet;
(2) ein logischesAuslegungselement, das die Gliederung der im Gesetz enthaltenen Gedanken ins Auge fasst;
(3) ein systematischesAuslegungselement, das sich auf den inneren Zusammenhang bezieht, welcher die Regeln und Begriffe zu einer einheitlichen Rechtsordnung verbindet;
(4) das historischeAuslegungselement, das man auf Unterschiedliches bezieht: teils auf den zur Zeit der Gesetzgebung bestehenden Regelungszustand, teils auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, teils generell auf den geschichtlichen Zusammenhang einer Regelung.
(5) Hinzu tritt das häufig herangezogene teleologischeAuslegungselement, dh der Rückschluss vom Zweck des Gesetzes auf seinen Inhalt (dazu Rn 105).
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Diese Auslegungsregeln haben das Ziel, den Gesetzesinterpreten einen gewissen Spielraum zu gewähren, ohne die grundsätzliche Bindung an das Gesetz aufzuheben. Hingegen haben sie nicht den Sinn, die mitgestaltende Funktion der Gerichte und der Wissenschaft bei der Rechtsnormenbildung zu verhindern. Keine Gesetzessprache, auch wenn sie eng umrissene Tatbestände beschreiben will, ist exakt genug, um unscharfe Begriffsränder und Mehrdeutigkeit bei den Aussagen zu vermeiden.
Beispiel:
Nach § 854 I wird der Besitz einer Sache durch Erlangung der tatsächlichen Gewalt erworben; nach § 856 I wird der Besitz durch Verlust der tatsächlichen Gewalt wieder beendet. Der Ausdruck „tatsächliche Gewalt über eine Sache“ löst zunächst eindeutige Vorstellungen aus: Wir denken an das Haus, das wir vor unerwünschten Eindringlingen verschließen, oder an die Geldbörse, die wir eng am Körper in unserer Hosentasche tragen. Vielfach ist die Beurteilung der Besitzlage aber schwierig: Hat man Besitz an dem Hut, den man – wie man sicher weiß – auf der Parkbank vergessen hat? Oder den man liegen ließ, ohne genau zu wissen, ob auf der Parkbank oder im Kaffeehaus? Oder den man irgendwo im Park verloren hat? Es gibt demnach unterschiedliche Grade der „Gewaltbeziehung“. Irgendwo verläuft die Grenze zwischen Besitz und Nichtbesitz , die aus den Worten „tatsächliche Gewalt“ allein nicht exakt hergeleitet werden kann.
Bei der Interpretation muss man sich auch überlegen, welche rechtlichen Folgen die Bejahung oder Verneinung des Besitzes einer Person an einer Sache für die Fallentscheidung hat. So wird nicht nur vom Gesetz auf das Ergebnis, sondern zugleich von den möglichen Ergebnissen auf den Inhalt des Gesetzes geschlossen. Je allgemeiner die gesetzlichen Begriffe, desto weiter und undeutlicher sind die Begriffsfelder.
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Ist ein gesetzlicher Begriff oder Aussagenzusammenhang vieldeutig, so muss der Richter unter den Möglichkeiten wählen, wenn seine Entscheidung davon abhängt. Er setzt dabei die genannten Auslegungselemente ein, die jedoch zumeist nicht dazu führen, dass eine Deutung als die allein gesetzmäßige angesehen werden kann. Vielmehr findet sich der Richter häufig in der Lage, zwischen mehreren Deutungen des Gesetzes wählen zu können , die sich sämtlich ohne Verstoß gegen Logik und Methodik als gesetzeskonform erweisen lassen. Die Wahl fällt dann wohl auf diejenige Deutung, die nach Auffassung des Richters zum gerechtesten Ergebnis führt. Die Gerichte entscheiden innerhalb des ihnen gelassenen Spielraums nach eigener Wertung der Interessenlage . Man darf sich den inneren Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung nicht so vorstellen, als ob in getrennten Schritten zuerst das Gesetz ausgelegt und dann auf den Fall angewendet würde. Vielmehr wandert der Blick zwischen Rechtsnorm und Resultat ständig hin und her: Die Rechtsnorm beeinflusst nicht nur das Resultat, sondern auch das Resultat die Rechtsnorm. Für das Verständnis der Gesetzesanwendung ist das von größter Bedeutung: Die gesetzlichen Begriffe werden nicht als abschließend vorgegebene Größen betrachtet und aus sich heraus gedeutet, sondern im ständigen Kontakt mit immer neuen Konflikterfahrungen umgestaltet. Bei der richterlichen Entscheidungsfindung ereignet sich demnach ein Zweifaches:
(1) Das Gericht versteht und nachvollzieht das Gesetz.
(2) Gleichzeitig füllt es den Inhalt des Gesetzes von seinem Rechtsverständnis her auf.
3. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln
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Die oft fehlende Begriffsschärfe der Gesetze wird als Manko beklagt, bietet jedoch bei näherem Hinsehen einen wichtigen Vorteil. Der Gesetzgeber hat bei seiner Regelung bestimmte mögliche Konflikte im Auge, für die er gerechte Lösungen finden will. Der menschliche Geist ist aber weder in der Lage, die Wirklichkeit vollständig zu erfassen, noch die in der Zukunft liegenden Veränderungen sicher vorauszusehen. Mit der Fehleinschätzung und Veränderung der vorgestellten Realität verlieren aber die im Gesetz niedergelegten Wertungen an Überzeugungskraft. Infolgedessen ist der Gesetzgeber entweder zu ständigen, rasch aufeinander folgenden Gesetzesänderungen gezwungen, oder aber er vertraut darauf, dass die Gerichte das gesetzgeberische Erkenntnisdefizit ausgleichen. Die Gerichte haben vor dem Gesetzgeber den Vorzug, dass ihnen die wirklichen Konflikte begegnen. Das Gesetz bleibt als menschliches Konstrukt gegenüber der Vielfalt des Lebens notwendig zurück; es ist nach einem gängigen Wort im Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens schon veraltet. Es ist dann die richterliche Handhabung, die das Gesetz trotzdem brauchbar und lebensfähig erhält.
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Ein kluger Gesetzgeber wird der Rechtsprechung die Teilnahme an der Rechtsnormenbildung mit Bedacht erleichtern. Es geschieht dies durch die Verwendung relativ weiter, ausfüllungsbedürftiger Begriffe wie „Billigkeit“ (§ 829), „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (§ 276 II), „wichtiger Grund“ (§ 314 I 1) oder „zumutbar“ (vgl § 313 I). Mit solchen unbestimmten Rechtsbegriffenermächtigt das Gesetz die Rechtsanwender, den Begriffsgehalt näher zu konkretisieren.
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Als besonders wichtige Ermächtigungsnormen für richterliche Rechtsbildung erweisen sich die Generalklauseln. Darunter versteht man ganz allgemein formulierte Aussagen, die als Grundprinzipien in der gesamten Zivilrechtsordnung gelten. Dazu gehören vor allem der Grundsatz von „Treu und Glauben“ (§§ 157, 242) und die allgemeine Beachtlichkeit der „guten Sitten“ (§§ 138, 826). Bei den Generalklauseln ist aus dem Wortsinn verhältnismäßig wenig zu erschließen; ihr Inhalt wird durch Rechtsprechung und Wissenschaft aufgefüllt (zu § 138 Rn 670 ff; zu § 242 Rn 247).
4. Umkehrschluss, Analogie, teleologische Reduktion
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Bei der Lösung eines Rechtsfalls kommt es vor, dass die Anwendung des Gesetzes zu einem eindeutigen Ergebnis führt, das aber das Gericht für unpassend oder ungerecht hält. Oft ist es so, dass ein konkreter Fall eine Besonderheit aufweist, die im Gesetz keine Berücksichtigung gefunden hat, obwohl sie nach Einschätzung des Gerichts eine andere Wertung der Interessen nahe legt als bei den übrigen unter die Norm fallenden Sachverhalten. Muss dann das Gericht aufgrund seiner Bindung an das Gesetz die nach seiner Meinung unpassende Entscheidung fällen?
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