(2) Zwingend sind Vorschriften, deren Sinnes gerade ist, die Vertragsfreiheit zu begrenzen, wie zB § 138 oder § 134.
(3) Zwingend sind die fundamentalen Vorschriften über die allgemeine Rechtsstellung einer Person. So kann niemand durch Vereinbarung seine Rechtsfähigkeit (§ 1) aufgeben. Durch Vereinbarung kann auch nicht die Altersgrenze für die Volljährigkeit (§ 2) verändert werden.
(4) Zwingend sind Vorschriften, die sich als Gewährung eines Mindestschutzes für den schwächeren oder eher gefährdeten Partnereines Rechtsverhältnisses begreifen lassen. Oft ist der zwingende Charakter in diesem Fall einseitig: Von der Rechtsnorm kann nicht zu Lasten, wohl aber zu Gunsten des schutzbedürftigen Teils abgewichen werden (ausdrückliche Bestimmungen dieser Art vor allem im Wohnungsmiet- und im Verbraucherschutzrecht, zB §§ 487, 563 V, 651m).
(5) Zwingend sind vielfach Vorschriften über die instrumentale Ausgestaltung von Rechten und Pflichten, insbesondere der mit räumlich-gegenständlichen Bestimmungsbefugnissen ausgestatteten Rechte an Gegenständen der Körperwelt (= Sachen, § 90). Auch bei Geltung der Vertragsfreiheit muss die Rechtsordnung ein in sich verständliches System bleiben, das möglichst klare Begriffe und Gestaltformen der Rechtsverhältnisse entwickelt. Das ist vielfach nur möglich, wenn die Ausgestaltung der möglichen Rechtsbeziehungen durch verbindliche Zuordnungstypen erfolgt. Daher sind zB die Strukturen und die Erwerbsgründe des Eigentums und anderer Sachenrechte zwingend geregelt. Hingegen haben die Regelungen der im besonderen Teil des Schuldrechts (§§ 433 ff) normierten Schuldvertragstypen in der Regel einen dispositiven Charakter.
Literatur:
F. Möslein , Dispositives Recht. Zwecke, Strukturen und Methoden, 2011.
Teil I Grundlegung› Kapitel 3 Zivilrecht und politisches System
Kapitel 3 Zivilrecht und politisches System
Inhaltsverzeichnis
1. Das Problem
2. Zur Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher
3. Zivilrecht auf der Grundlage des Liberalismus
4. Die Entwicklung des Zivilrechts im Zeitalter des Sozialstaats
5. Zivilrecht und Grundgesetz
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Zur Frage, wie sich das Zivilrecht zum jeweils herrschenden politischen System verhält, gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Auf der einen Seite herrschte lange die Vorstellung, die aus dem antik-römischen Recht entwickelte Privatrechtsordnung sei unpolitisch: Wie Verträge geschlossen und aufgelöst werden, oder wie die Bürger vor Übergriffen anderer zu schützen sind, berühre nicht die jeweiligen politischen Zustände, sondern werde durch Regeln gelöst, welche die Rechtswissenschaft über die Zeiten hinweg entwickelt habe. „Politik vergeht, Zivilrecht besteht“, könnte die (etwas übertriebene) Formel für diesen Standpunkt lauten. Auf der anderen Seite ist ganz offenbar, dass auch die Regelungen des Privatrechts von Grundentscheidungen des politischen Systems abhängen. In einem Staat, in dem die Rechtsgleichheit aller herrscht, gibt es keine Sklaven und folglich keine Regeln über den Sklavenkauf. Die Frage, welche Verträge geschlossen werden können und welchen Inhalt sie haben dürfen, hängt davon ab, ob das Privatrecht auf dem Grundprinzip der Vertragsfreiheit aufbaut oder nicht. Totalitäre Staaten versuchen sogar, das Privatrecht insgesamt in den Dienst der Politik zu stellen. In diesem Sinne betrieb zB der Nationalsozialismus die Politisierung des Zivilrechts. Aber auch in Demokratien kann das Zivilrecht nicht losgelöst von den politischen Grundentscheidungen betrachtet werden.
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Um das heutige Zivilrecht zu verstehen, muss man die beschriebenen Sichtweisen zusammenführen. Das Recht des BGB beruht auf einer wissenschaftlichen Rechtstradition, die unter recht unterschiedlichen politischen Systemen entstanden ist und sich laufend fortentwickelt. Insoweit machen die Rechtsregeln einen politisch „neutralen“ Eindruck: Das in einer absoluten Monarchie geltende Kaufrecht kann dem in einer Demokratie ganz ähnlich sein. Auf der anderen Seite wirken die Verfassungsstrukturen auf das Zivilrecht ein: Sie bestimmen die Grenzen privatrechtlichen Handelns, sie wirken auch auf die Anforderungen ein, die an das Zivilrecht gestellt werden. Ein freiheitliches politisches System gibt dem Zivilrecht zwar bestimmte Grundbedingungen vor, belässt ihm aber auf dieser Basis einen weiten Gestaltungsraum, der es erlaubt, den überkommenen Rechtsstoff fortzuentwickeln und den jeweiligen Anforderungen der Zeit anzupassen. Gerade in unseren Tagen muss sich das Zivilrecht unter rasanten gesellschaftlichen wie technischen Änderungen bewähren, man denke an die Entwicklung von Mobilitäts- und Kommunikationstechniken, der modernen Fortpflanzungsmedizin, des Internet und der wirtschaftlichen „Globalisierung“. So setzt sich das Zivilrecht als Normkomplex aus langfristig wirkenden Strukturen und zeitbedingten Elementen zusammen. Daraus ergibt sich eine Mischung aus traditionellem und neuem Recht, die einer stetigen Veränderung ausgesetzt ist.
2. Zur Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher
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Die Langzeitstrukturen des Zivilrechts erklären das hohe Alter der heute noch einschlägigen Zivilgesetzbücher. Der französische Code Civil gilt seit 1804, das österreichische ABGB seit 1811, natürlich mit einigen im Laufe der Zeit vorgenommenen Änderungen. Das BGB stand seit dem 1.1.1900 über 100 Jahre lang größtenteils unverändert in Geltung, sieht man von dem besonders labilen Familienrecht einmal ab. Erst das „Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts“ vom 26.11.2001 veränderte ein Kernstück des BGB grundlegend.
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Jedenfalls ist erstaunlich, dass das BGB, ein Produkt des zweiten deutschen Kaiserreichs, auch in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, bis 1.1.1976 auch in der DDR und schließlich in der Bundesrepublik gegolten hat. Wie soll ein Zivilgesetzbuch in so verschiedenen Gesellschaften anwendbar gewesen sein? Grund dafür ist unter anderem, dass das rechtstechnische Instrumentarium insofern politisch neutral ist, als es für beliebige Konfliktlösungen und Wertungen eingesetzt werden kann. Dabei ist folgendes entscheidend geworden: Bereits im römischen Reich der Antike ist eine großartige Rechtswissenschaft entstanden, welche die Ausbildung der zivilrechtlichen Begriffe und Rechtsfiguren so weit vorangetrieben hat, dass die folgenden Zeiten geistig davon leben konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich die Zivilrechtswissenschaft überwiegend als Wissenschaft vom römischen Recht dar, deren Begriffe und Rechtstechniken sie fortführte, weiter entfaltete und ausfeilte. Dieses von der Rechtswissenschaft geschaffene Instrumentarium erweist sich als fähig, unterschiedlichen sozialen Ordnungen zu dienen.
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Auf der genannten Tradition des Zivilrechts beruht es auch, dass man zu der Zeit, als die großen Gesetzbücher geschaffen wurden, regelmäßig nicht den Versuch eines Gesamtgesetzbuchs gemacht hat, in dem Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Strafrecht und Zivilrecht vereinigt und in ihren gegenseitigen Bezügen erkennbar gewesen wären (anders nur das preußische Allgemeine Landrecht von 1794). Vielmehr wurden gesonderte Zivilgesetzbücherausgearbeitet, die vom öffentlichen Recht und dem konkreten politischen Zustand des Gemeinwesens abstrahieren und so der Anpassung an politische Veränderungen in besonderem Maß fähig sind. Eine derart „abstrakte“ Zivilrechtsordnung legt zB keineswegs erschöpfend fest, welche Verträge verboten sind; sie überlässt dies dem öffentlichen Recht und regelt nur die zivilrechtlichen Folgen für den Fall, dass ein Vertrag verbotswidrig abgeschlossen wird (§ 134 BGB). Will man also wissen, welche Verträge erlaubt sind, so wird man aus dem Zivilgesetzbuch verhältnismäßig wenig erfahren. Gerade die Ausschaltung des unsteten öffentlichen Rechts bedingt die Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher durch die Zeiten hindurch.
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