47
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Rechtsnorm des § 433. Ihr Tatbestand setzt voraus, dass ein Kaufvertrag vorliegt. § 433 schweigt sich aber darüber aus, wie ein solcher Vertragzustande kommt. Der Grund ist wiederum gesetzestechnischer Art. Der Kaufvertrag kommt zustande wie eine Vielzahl anderer Verträge. Also wird man nicht bei jedem einzelnen Vertragstyp das Zustandekommen des Vertrags regeln, sondern wiederum die einschlägigen Vorschriften vor die Klammer ziehen. Daher regelt das BGB in §§ 145–157 allgemein das Zustandekommen von Verträgen.
Aber nicht genug damit: Nicht alle Probleme, die beim Abschluss von Verträgen auftreten können, sind in den §§ 145–157 geregelt. Das BGB kennt vielmehr einen weiteren Oberbegriff, der Verträge und andere Vorgänge zusammenfasst, in denen eine Rechtsfolge durch darauf gerichtete Erklärungen ausgelöstwird: das Rechtsgeschäft. So ist zB die Kündigung eines Mietverhältnisses kein Vertrag; sie ist aber gleich dem Vertrag ein Rechtsgeschäft, weil kraft einer hierauf gerichteten Erklärung eine Rechtsfolge (hier: Auflösung des Mietverhältnisses) bewirkt wird. Da bei Rechtsgeschäften aller Art ähnliche Probleme auftreten, enthält das BGB allgemeine Regeln über das Rechtsgeschäft, die auch für Verträge und daher auch für den Kaufvertrag gelten.
Der wesentliche, aber nicht einzige Bestandteil der Rechtsgeschäfte ist die Erklärung einer oder mehrerer Personen. Daher hat das BGB in §§ 116 ff spezielle Regeln für Willenserklärungengeschaffen, die für jede rechtsgeschäftliche Erklärung, also auch für Vertragsangebot und Vertragsannahme, also auch für Kaufangebot und Kaufannahme gelten.
Schema: |
Kaufvertrag: |
§§ 433 ff |
= Vertrag: |
§§ 145 ff |
= Rechtsgeschäft: |
§§ 104 ff, 158 ff |
– insoweit dieses aus Willenserklärungen besteht: |
§§ 116 ff |
48
Das Gesetz bedient sich mithin einer ausgefeilten Verweisungstechnik. In einer gesetzlichen Vorschrift verwendete Begriffe bilden oft eine Art Signatur für einen Zusammenhang von Vorschriften, die an anderer Stelle des Gesetzes geregelt sind und mit Hilfe der Verweisung in beliebige Rechtsnormen hereingeholt werden können. Vor allem im ersten Buch des BGB (Allgemeiner Teil)sind Normelemente, die auf den verschiedensten Feldern des Zivilrechts vorkommen, vorab geregelt und „vor die Klammer gezogen“ und müssen dann in die Anwendung der spezielleren Normen mit hinein genommen werden.
Beispiel:
Verwendet eine Anspruchsnorm wie § 985 den Terminus „Besitzer“. so wäre es falsch, einen Begriff des Besitzers aus dem Wortsinn in der Alltagssprache zu entwickeln. Wer „Besitzer“ ist, kann nur aus den gesetzlichen Regeln des Besitzerwerbs und -verlusts hergeleitet werden (§§ 854 ff): Besitzer ist derjenige, der den Besitz an der Sache nach diesen Regeln erworben und nicht wieder verloren hat. In Zweifelsfragen sind darüber hinaus alle Vorschriften in die Beurteilung einzubeziehen, in denen „Besitz“ oder „Besitzer“ eine Rolle spielen. Denn an den Besitz werden Rechtsfolgen geknüpft (zB in den §§ 861, 862, 985, 1007), die auf die Handhabung des Besitzbegriffs zurückwirken.
Häufig kommt es vor, dass ein und derselbe gesetzliche Terminusin diversen Vorschriften eine unterschiedliche Bedeutungenerhält. Die Juristen drücken dies durch die Redewendung „im Sinne des“ aus: Eigentum „im Sinne des BGB“ ist etwas anderes als Eigentum „im Sinne des Grundgesetzes“, Freiheit „im Sinne des § 823 I BGB“ etwas anderes als Freiheit „im Sinne des § 960 BGB“, und so fort.
6. Zwingende und nachgiebige Vorschriften (ius cogens – ius dispositivum)
49
Bei einigen Vorschriften des Gesetzes ist angemerkt, dass die getroffene Regelung nicht durch Rechtsgeschäft abbedungen oder abgeändert werden kann oder dass entgegenstehende Vereinbarungen unwirksam sind (zB § 619). Bei den meisten Paragraphen des BGB findet sich ein solcher Zusatz indessen nicht. Daraus kann man erkennen, dass die Vorschriften des BGB und der anderen Zivilrechtsgesetze einen unterschiedlichen Geltungsanspruch erheben. Sie sind
– |
entweder zwingendin dem Sinne, dass die Regelung durch Vereinbarung der Beteiligten nicht ausgeschaltet oder verändert werden kann, |
– |
oder nachgiebig (dispositiv); dann kann ihre Geltung für ein bestimmtes Rechtsverhältnis durch Vereinbarung unter den Beteiligten ausgeschlossen oder verändert werden. |
In weitem Umfang haben die Vorschriften des BGB dispositiven Charakter, weil unserem Zivilrecht das Prinzip der Vertragsfreiheit zugrunde liegt ( Rn 415). Diese Freiheit besteht indes nur bis zu einer bestimmten Grenze, welche durch die zwingenden Vorschriften abgesteckt wird.
50
Man könnte fragen, ob sich das Gesetz nicht überhaupt auf zwingende Normen beschränken und alles Übrige den Vereinbarungen überlassen sollte. Das wäre aber nicht zweckmäßig. Die Vereinbarungen der Parteien sind häufig unvollständig, dh sie beziehen sich nicht auf alle Konflikte, die im vertraglich geregelten Rechtsverhältnis entstehen können. Die Vertragsparteien denken gewöhnlich an eine ordnungsgemäße Durchführung ihrer Vereinbarungen, nicht aber an Vertragsverletzungen oder an einen Streit über den Vertragsinhalt. Wer ein Buch kauft, denkt nicht daran, in dem gekauften Exemplar könnten 20 Seiten fehlen; er denkt daher auch nicht daran, für diesen Fall eine Vereinbarung mit dem Verkäufer zu treffen. Hinzu kommt, dass Leistungshindernisse in einem Schuldverhältnis eine juristisch komplizierte Materie bilden, in der sich juristische Laien gewöhnlich nicht auskennen. Die Störungen in einem Rechtsverhältnis können zudem so vielgestaltig sein, dass selbst juristisch ausgebildete Vertragspartner oft nicht an alle Möglichkeiten denken. Deshalb springt das Gesetz mit seinen nachgiebigen Vorschriften ein und bietet den Parteien ein Modell der Konfliktlösung an. Dieses Modell ist dann verbindlich, wenn und soweit die Parteien nicht ein anderes vereinbaren.
51
Ist eine gesetzliche Vorschrift für einen Streitfall einschlägig, haben die Parteien aber etwas davon Abweichendes vereinbart, so hängt die Rechtslage davon ab, ob die Vorschrift zwingend ist oder nicht. Diese Frage zu entscheiden, ist oft nicht leicht. Indem das Gesetz den zwingenden Charakter bei einigen Normen ausdrücklich anmerkt, erklärt es nicht etwa alle anderen für dispositiv. Der zwingende Geltungsanspruch kann sich vielmehr auch aus dem Zweck der Vorschriftergeben. Die Prüfung, ob eine gesetzliche Vorschrift zwingend oder dispositiv ist, erfolgt also in zwei Schritten:
– |
Zunächst ist festzustellen, ob die zwingende Natur vom Gesetz selbst ausdrücklich angeordnet ist. |
– |
Wenn dies nicht der Fall ist, so ist zu prüfen, ob der Normzweck den zwingenden Charakter erfordert. Wird auch dies verneint, so ist die Norm dispositiv. |
52
Für die zwingende Natureiner Norm sprechen folgende Gesichtspunkte:
(1) Zwingend sind Vorschriften, die für die Rechtswirksamkeit einer Handlung eine bestimmte Formvorschreiben (Beispiel § 311b I iVm § 125 – Grundstücksgeschäfte). Das Formerfordernis dient dem Schutz der Beteiligten oder der Transparenz des rechtlichen Vorgangs für andere, die davon betroffen werden könnten.
Читать дальше