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Die abstrakte Gesetzessprache bildet für die Juristen eine Versuchung, die juristischen Konstruktionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln und über der Gesetzeslogik die Lebensverhältnisse, um die es geht, zu vergessen. Das hat den Juristenstand dem Vorwurf der Weltfremdheit und Beschränktheit ausgesetzt, der vielfach berechtigt war und ist. „Der königliche Landgerichtsrat Alois Eschenberger war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande. Er kümmerte sich nicht um das Wesen der Dinge, sondern ausschließlich darum, unter welchen rechtlichen Begriff dieselben zu subsumieren waren.“ Diese von Ludwig Thoma geschilderte Haltung wird durch das BGB gefördert, gerade weil es in seiner begrifflichen Perfektion gut gelungen ist. Es ist kein guter Jurist, der nicht auch Freude am intellektuellen Spiel mit der kunstvollen Verzahnung der Rechtsfiguren und -normen empfindet. Nur wird das Spielen auf der technischen Klaviatur des BGB allzu leicht zum Selbstzweck. Darüber wird nicht selten die Anschauung der Lebensverhältnisse, auf die das Gesetz angewendet wird, vernachlässigt und der eigentliche Sinn der Rechtsregeln vergessen.
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Die Begriffshöhe des BGB macht es schwierig, das dahinterstehende politische Konzept, das Gesellschaftsmodellund darüber hinaus das Menschenbilddes Gesetzbuchs zu erkennen. Es ist zu bedenken, dass das Gesetzbuch aus sehr unterschiedlichen Traditionen gespeist wird (römisches Recht, Rechtsdenken der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, sozialstaatliche Vorstellungen des 20. Jahrhunderts). In vielem lässt die ursprüngliche Fassung des BGB den Geist seiner Entstehungszeit erkennen; es war für die Bedürfnisse des geschäftetreibenden Bürgertums konzipiert, wie das Zurücktreten des Personenrechts hinter die wirtschaftlichen Bezüge erkennen lässt. Durch zahlreiche Reformen und richterliche Rechtsfortbildung, vor allem auch durch den Einfluss des Grundgesetzes auf das Privatrecht ( Rn 80) hat sich der Charakter des Gesetzbuchs im Laufe der Zeit wesentlich gewandelt.
Literatur:
Materialien zur Entstehung des BGB: Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Amtliche Ausgabe, 5 Bde., 1888; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 7 Bde., 1897–1899; B. Mugdan , Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 5 Bde., 1899; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, 6 Bde., 1890–1891; H.H. Jakobs/W. Schubert (Hg.), Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 14 Bde., 1978–1991; W. Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs, 1986. Unter den zeitgenössischen Kritikern ragen hervor: O. v. Gierke , Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 2. Aufl. 1889; A. Menger , Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908. Zur Geschichte des BGB: M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, bisher Bd.1–3, 2003–2013; M. Martinek/P.L. Sellier (Hg.), 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, 1999; U. Falk/H. Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, 2000; H. Schulte-Nölke , Die schwere Geburt des Bürgerlichen Gesetzbuchs, NJW 1996, 1705 ff; D. Schwab , Das BGB und seine Kritiker, ZNR 2000, 325 ff.
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Für die Lösung von Rechtskonflikten ist bei kodifizierten Zivilrechten das Gesetz der Ausgangspunkt; aus ihm sind zunächst die Entscheidungskriterien zu erarbeiten. Der Streit, der zwischen den Personen des Zivilrechts entsteht, ist, wie gezeigt, ein Streit um Rechtswirkungen (Rechtsfolgen), hauptsächlich um Berechtigungen (subjektive Rechte), Pflichten und Risikozuweisungen, die sich aus bestimmten Ereignissen (Sachverhalten) ergeben sollen.
A behauptet, |
er könne auf Grund gewisser Geschehnisse von B etwas verlangen oder ihm gegenüber etwas tun |
(behauptete Rechtsfolge: eine Berechtigung) |
A behauptet, |
B sei ihm gegenüber zu etwas verpflichtet |
(behauptete Rechtsfolge: eine Verpflichtung) |
A behauptet, |
B habe ihm gegenüber die wirtschaftlichen Nachteile eines bestimmten Ereignisses zu tragen. |
(behauptete Rechtsfolge: die Zuweisung eines Risikos) |
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Die Prüfung eines Begehrens beginntdamit, dass man Vorschriften sucht, aus denen sich – möglicherweise in Verbindung mit einem von den Beteiligten abgeschlossenen Rechtsgeschäft – die behauptete Rechtsfolge ergibt. Es muss sich also um Vorschriften handeln, die an bestimmte Voraussetzungen (Tatbestand) eine Rechtsfolge (zB einen Anspruch) knüpfen. Das sind die Rechtsnormen im eigentlichen Sinne; von ihnen hat jede Lösung eines Rechtsfalles auszugehen. Alle sonstigen Vorschriften eines Gesetzes lassen sich als bloße Ergänzungen zu diesen Normen begreifen.
Hat man derartige Rechtsnormen, welche die behauptete Rechtsfolge anordnen, aufgefunden, so besteht der zweite Schrittdarin, sie auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden, dh zu prüfen, ob die im Normtatbestand festgelegten Voraussetzungen im konkreten Sachverhalt erfüllt sind (Subsumtion).
Es sind also folgende Schritte zu tun:
1. |
Man sucht die Normen auf, aus denen sich die streitige Rechtsfolge ergibt; |
2. |
man überprüft, ob der jeweilige Tatbestand (Voraussetzungsteil dieser Normen) im Sachverhalt erfüllt ist. |
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Nicht alle Vorschriften sind freilich derart strukturiert, dass sie eine Rechtsfolge in dem genannten Sinn anordnen. § 90 BGB beschränkt sich zB darauf, den Begriff der Sache zu definieren (Legaldefinition). § 104 bestimmt, welche Personen geschäftsunfähig sind, ohne erkennen zu lassen, welche Rechtsfolgen sich aus der Geschäftsunfähigkeit ergeben. Derartige Vorschriften, die keine Rechtsfolge anordnen, haben ergänzende Funktionzu den eigentlichen Rechtsnormen. Man kann versuchen, alle Elemente einer Rechtsregel vollständig in einen Paragraphen zu packen. Man wird dabei aber feststellen, dass der Paragraph dann häufig gewaltige Ausmaße annehmen würde. Das lässt sich verhindern, wenn man den normativen Stoff auf mehrere Vorschriften verteilt.
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Beispiele sollen das verdeutlichen. Die §§ 985, 986behandeln den Anspruch des Eigentümers einer Sache gegen den Besitzer, dh gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt, auf Herausgabe. Grob gesagt soll der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen können, außer wenn der Besitzer im Verhältnis zum Eigentümer ein Recht zum Besitz hat. Diesen einfachen Gedankengang hätte man ohne Schwierigkeit in einem Paragraphen regeln können. Warum hat man es nicht getan? Der etwas verwickelte Text des § 986 I zeigt, dass die Sache schwierig wird, wenn dem Eigentümer mehrere Besitzer gegenüberstehen. Folglich hat man den Normtatbestand in mehrere „Portionen“ zerlegt und auf zwei Paragraphen aufgeteilt. Dennoch handelt es sich um ein und dieselbe Rechtsnorm, um ein und dieselbe Rechtsfolge. § 986 I ist folglich in § 985 als Teil des Normtatbestandes hineinzulesen.
Aber auch wenn man § 986 zu § 985 hinzunimmt, ist der Normtatbestand noch nicht in sich vollständig. § 985 formuliert als Tatbestandselement, dass jemand „Eigentümer“ sein muss, um den Herausgabeanspruch zu haben. Bei der Gesetzesanwendung ist also zu prüfen, ob die Person, welche Herausgabe verlangt, Eigentümer ist. Darüber, wie man Eigentümer wird und wie man das Eigentum wieder verliert, schweigt sich § 985 aus. Es ist dies in ganz anderen Vorschriften geregelt (für bewegliche Sachen §§ 929 ff). Auch diese Regeln hätte das Gesetz in § 985 aufnehmen können. Dies wäre aber sehr unzweckmäßig gewesen. Denn auf diese Weise hätte § 985 einen gewaltigen Umfang angenommen und wäre unlesbar geworden. Ferner ist die Frage, wie man Eigentum erwirbt und verliert, nicht nur für den Anspruch aus § 985 von Bedeutung, sondern für viele andere Rechtsnormen. Das BGB hat daher den Weg gewählt, die Vorschriften über Eigentumserwerb und -verlust isoliert niederzulegen und gleichsam „vor die Klammer“ zu ziehen. Auch diese Vorschriften sind in den Normtatbestand des § 985 hineinzulesen. Das Wort „Eigentümer“ verweist also auf sämtliche Vorschriften des BGB, aus denen sich der Eigentumserwerb und -verlust ergibt: „Eigentümer“ ist derjenige, der nach den Regeln des BGB Eigentum erworben und es nicht wieder verloren hat. Die Bezeichnung „Eigentümer“ ist gleichsam nur eine Abkürzung. Das gleiche gilt für das Tatbestandsmerkmal „Besitzer“ (zu Besitzerwerb und -verlust siehe §§ 854 ff). Es gilt auch für das Normelement „zum Besitze berechtigt“ in § 986 I, weil sich erst aus anderen im BGB verteilten Regelungen ergibt, aus welchen Grund ein Nichteigentümer zum Besitz einer Sache berechtigt sein kann (zB als Mieter etc). Der Normtatbestand des § 985wird also durch eine Reihe weiterer Vorschriften aufgefüllt.
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