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(4)Gegen diese Modernisierung des Gewaltbegriffs bildete sich seit Mitte der sechziger Jahre eine zunehmende Restaurationsbewegung. Teils wurde versucht, den modernen Gewaltbegriff mit weiteren Ausweitungen ad absurdum zu führen ( Koffka JR 64, 397), teils eine Rückkehr zum „klassischen“ Gewaltbegriff (was ist das?), teils ein „mittlerer Kurs“ gefordert, dessen Kriterien jedoch offen blieben ( Geilen aaO 465). Krey/Neidhardt plädierten für eine körperliche Zwangswirkung mit „normativer Relativierung“[26]. Wenig einleuchtend war auch das Argument, bei dem Zwang zu einem Verhalten durch eine abgeschlossene Veränderung der Umwelt handle das Opfer wie bei der Täuschung seinem Willen gemäß[27]; denn das tut derjenige, der nicht sinnlos an seinen Fesseln rüttelt, auch ( Jakobs FS Peters 77). Kaum befriedigen konnten auch die vielfältigen Versuche, die Gewalt auf Körperverletzungen oder Körpergefährdungen zu beschränken[28]. Ebenso erscheint es wenig sinnvoll, den Gewaltbegriff durch eine Hereinnahme der Rechtswidrigkeit einzuschränken[29]. Vollends irritierend waren Rundumschläge gegen den engen Gewaltbegriff als Unterdrückung der körperlich arbeitenden unteren Klassen und Schichten und zugleich gegen den weiten Gewaltbegriff als sonstige politische Unterdrückung[30]. Die Ablehnung der Gewalt bei Verkehrsblockaden ist nicht über die Untergerichte hinausgelangt[31].
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BVerfGE 92, 1(1995) hat Sitzblockadenvon Verkehrswegen als Zwangswirkungen angesehen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss beruhen, und die Bejahung von Gewalt als verbotene Analogiebezeichnet[32].
Dieses unklare und gegen die Gleichbehandlung verstoßende Urteil hat erhebliche Unsicherheit in der Rechtsprechung hervorgerufen. BGH 41, 182 hat die Blockade mittels der durch eine Sitzblockade angehaltenen Fahrzeuge als Gewaltangesehen (sog. „2. Reihe-Urteil“)[33]. Gewalt wurde ferner bejaht bei: länger dauerndem dichtem Auffahren (OLG Karlsruhe NStZ-RR 98, 58), dem längeren Verhindern des Überholens durch Linksfahren (OLG Düsseldorf StV 01, 350)[34], dem Zwang des nachfolgenden Autofahrers zur Reduzierung der Geschwindigkeit auf 42 km/h durch Langsamerfahren (BayObLG NJW 02, 628), Befestigen von Stahlkörpern auf Eisenbahngleisen[35], Straßenblockade mit Fahrzeugen (BGH NJW 95, 2862; OLG Karlsruhe NJW 96, 1551) oder durch Hunderte von Menschen (BGH NStZ 95, 593[36]), dem Sichlegen auf die Motorhaube eines Pkw (BGH StV 02, 360).
Das BVerfG hat das Sichanketten in einer Einfahrt und die Blockade einer Autobahn mittels Fahrzeugen als „Errichtung einer physischen Barriere mittels körperlicher Kraftentfaltung“[37] und das dichte Auffahren auf den Vordermann (NStZ 07, 397) als Gewalt angesehen.
Dagegen wurde Gewalt verneintbei dem verkehrswidrigen Gehen auf der Fahrbahn zur Behinderung von Autofahrern (BGH 41, 420), dem Verhindern des Passierens mit einem Einkaufswagen[38], dem andauernden Anhupen eines verkehrsbedingt haltenden Verkehrsteilnehmers (OLG Düsseldorf NJW 96, 2245), der Blockade einer Internetseite (OLG Frankfurt a.M. StV 07, 244).
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Gewalt ist danachdie körperliche oder mit Hilfsmitteln erzielte Kraftentfaltung, die sich als physisch vermittelter Zwang zur Überwindung eines tatsächlichen oder erwarteten Widerstands auswirkt[39]. Wichtiger als eine Definition erscheint es, die Strukturen des Zwangesaufzudecken und in diesem Raster eine sinnvolle Abgrenzung der Gewalt zu suchen. Nicht alle Nötigungsmittel sind bei allen drei Nötigungsarten (s.o. Rn. 8) möglich ( Schroeder FS Gössel 416 ff.). Nach der Einwirkungsartsteht neben der technischen Unmöglichmachung (vis absoluta) die Veranlassung, von selbst das erstrebte Verhalten vorzunehmen (vis compulsiva). Die vis absoluta kann nur zu einer Duldung, die vis compulsiva auch zu einer Handlung oder zu einer Unterlassung zwingen (s.o. Rn. 8). Die Einwirkungsart bestimmt zugleich die Art des Ausschlusses der Handlungsfreiheit: die vis absoluta richtet sich gegen die Willensbildungsfähigkeit und die Willensbetätigungsfreiheit, die vis compulsiva gegen die Willensbildungsfreiheit (s.o. Rn. 6).
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Innerhalb des absoluten Zwangskönnen Einwirkungen auf die Person und auf die Umwelt unterschieden werden. Einwirkungen auf die Umwelt mit Zwangswirkung sind möglich als Bereitung von Hindernissen oder Zerstörung verhaltensnotwendiger Gegenstände. Der absoluten Unmöglichmachung steht die Offenhaltung eines unzumutbaren Auswegs (Einsperren im oberen Stockwerk eines Gebäudes; Überfahren des Blockierers, BGH 23, 54) gleich. Kompulsiver Zwangist möglich durch Zufügung von Übeln wie Schmerzen, seelischen Übeln (Einwirkung auf nahestehende Personen, Lieblingstiere oder Gegenstände mit Affektionsinteresse) mit konkludenter Fortsetzungsdrohung, die Schaffung fortwirkender derartiger Zustände, die Schaffung schadensdrohender oder wartungsbedürftiger Zustände und schließlich auch durch sonstige zum Ausweichen zwingende Umweltveränderungen (z.B. Lahmlegung der öffentlichen Verkehrsmittel durch Taxiunternehmer). Eine Freiheitsberaubung kann als Gewalt nur die Unterlassung des Weggehens und dieses voraussetzender Handlungen, nicht aber Handlungen und die Duldung von Handlungen am Körper erzwingen ( Schroeder FS Gössel 422).
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Ordnet man die bisherige Rechtsprechung in diese Abstufungen des Zwanges ein, so liegen die bedenklichen Grenzen innerhalb der Einwirkung auf den Körper bei den Fällen der Einwirkung über die Sinne (Schreckschüsse, Richten einer Pistole, Auffahren) und der bloßen Zufügung von Kälte und Witterungsunbilden. Soweit die Rechtsprechung die Gewalt auf die Einwirkung auf die Umwelt erstreckt hat, fällt auf, daß sie sich hierbei auf den Schutz hochrangiger Verhaltensmöglichkeitenbeschränkt hat: der Fortbewegungs-, der Verkehrs- und der Lehrfreiheit sowie der Unverletzlichkeit der Wohnung. Letzteres entspricht dem Sonderschutz der Wohnung im Rechtssystem (Art. 13 GG; § 123 StGB, s.u. § 30; § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB, s. Tlbd. 2, § 51 II)[40].
Unergiebig ist die Unterscheidung von Gewalt gegen die Person und Gewalt gegen Sachen[41], da § 240 – anders als §§ 249; 255 – beides erfasst.
Die Vorschriften über Sachbeschädigung, Wegnahme, Verkehrsunfallflucht sowie § 251 E 1962 (Sachentziehung) u.a. zeigen, dass nicht jede Veränderung der Umwelt mit Zwangswirkung als Nötigung gelten soll[42].
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Gewalt ist auch durch Unterlassenmöglich, nämlich der Beseitigung einer Zwangslage[43].
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Da der BGH bei der Versperrung einer Fahrbahn zwecks Einflussnahme auf die Verkehrsbetreiber die Nötigung auf die Verhinderung des Weiterfahrens der Fahrzeugführer verlagert hat (BGH 23, 46), muss bei diesen Willensmittlernder Wille zur Weiterfahrt tatsächlich vorgelegen haben[44]. Die Rechtsprechung verlangt, dass das Verhalten des Opfers eine spezifische Folgeder Gewaltanwendung ist, lässt dafür aber auch polizeiliche Sperrmaßnahmen in unmittelbarem örtlich-zeitlichem Zusammenhang mit der Blockade ausreichen[45].
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Manche Fälle, in denen eine „Gewalt“ zweifelhaft ist, stellen im Übrigen eine Drohung mit einem empfindlichen Übel nach Rn. 24 ff.dar (so für Hausbesetzungen OLG Hamm NJW 82, 2678[46]; für das Abbestellen des Heizöls durch den Hauseigentümer OLG Hamm NJW 1983, 1505; für Lärmterror OLG Koblenz NJW 93, 1809; abl. für die bedrängende Fahrweise OLG Köln NZV 92, 371). Dies gilt allerdings nicht für die bloße Verhinderung mit Fortsetzungsankündigung wie bei Sitzblockaden[47].
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