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Der ermittelnde Steuerfahnder wird in Steuerstrafverfahren häufig als Zeuge herangezogen. Er benötigt für seine Aussage vor Gericht die Genehmigung des Dienstvorgesetzten. Diese Genehmigung befreit ihn von der Pflicht zur Wahrung der Amtsverschwiegenheit, nicht von der Pflicht zur Wahrung des Steuergeheimnisses. Er muss deshalb eigenverantwortlich prüfen, ob Offenbarungsgründe gegeben sind. In der Regel dürfte § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO einschlägig sein. Im Zweifel entscheidet das Gericht, ob eine Frage im Hinblick auf das Steuergeheimnis zulässig ist.
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In diesem Zusammenhang stellt sich für die Strafzumessungspraxis immer wieder die Frage, ob die Aufhebung des Steuergeheimnisses zeitlich unbegrenzt gilt oder ob der ungehinderte Informationsaustausch sich nur auf den strafbefangenen Zeitraum erstrecken darf. Ist z.B. bei einer Einkommenssteuerhinterziehung in den Jahren 2002–2006 eine Hinzuziehung der aktuellen Einkommenssteuerakten für zur Bemessung der Geldstrafe oder Bewährungsauflage zulässig? Dürfen die Steuerakten aus der Zeit vor 2002, etwa auch alte Vermögenssteuerakten, hinzugezogen werden? Die Strafverfolgungspraxis sieht hierin im Hinblick auf die Offenbarungsbefugnis des § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO keine Probleme, handelt es sich doch um eine Offenbarung im Steuerstrafverfahren, um die wirtschaftlichen Verhältnisses des Täters im Zeitpunkt des Urteils zu erfahren. So werden für Strafmaßüberlegungen von den Gerichten regelmäßig die aktuellsten Steuerbescheide bzw. Steuererklärungen des Beschuldigten im Wege des Urkundenbeweises beigezogen, teilweise auch Finanzbeamte über die aktuellen steuerlichen Verhältnisse als Zeugen gehört. Hiergegen wird in der Literatur zunehmend Kritik geäußert.[11]
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Hinweis
Die Kritik scheint auf den ersten Blick nicht unberechtigt, weil die Praxis der Finanzbehörden, Staatsanwaltschaft und Gericht für die Bemessung der Tagessatzhöhe die aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse mitzuteilen, den Beschuldigten in Steuerstrafverfahren gegenüber allgemeinen Strafverfahren benachteiligen könnte. Der Verteidiger sollte aber im Einzelfall prüfen, ob eine Intervention gegen diese Justizpraxis tatsächlich dem Mandanten in der konkreten Prozesssituation unter Berücksichtigung des gerichtlichen Entscheidungsfreiraums bei der Bemessung der Tagessatzhöhe weiterhilft, oder eine günstigere Verhandlungslösung möglich ist.
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Problematischer aus unserer Sicht erscheint die ebenfalls im Ermittlungsbereich übliche Praxis der Straf- und Bußgeldsachenstellen, nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens die kompletten Steuerakten an die Staatsanwaltschaft zu übersenden, obwohl der Tatvorwurf sich lediglich beispielsweise auf Fälligkeitssteuerhinterziehung eines bestimmten Zeitraums beschränkt. Ein solcher Verstoß gegen das Steuergeheimnis kann den Mandanten bei der Urteilsfindung durchaus belasten, so dass hier, falls eine Verwertung der vom Gericht hieraus gezogenen Information nicht verhindert werden kann, im Rechtsmittelverfahren entgegengetreten werden sollte.
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Das Finanzamt ist bemüht, die Begleichung der bei Steuerfahndungsprüfungen häufig anfallenden sehr hohen Steuernachforderungen rechtzeitig zu sichern. Ein Instrument von vielen ist dabei die Möglichkeit, dem Ausreisewilligen den Pass zu entziehen. Unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 4 Passgesetz ist das Finanzamt berechtigt, alle für den Passentzug erforderlichen Tatsachen zu offenbaren.
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Nicht selten führt ein Steuerstrafverfahren auch in ein Insolvenzverfahren. Da dieses Verfahren ebenfalls unter § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO fällt, sind Angaben, die zur Durchführung dieses Verfahrens erforderlich sind, zulässig (z.B. Angaben im Insolvenzeröffnungsantrag des Finanzamtes, Anmeldung der Steuerforderungen zur Insolvenztabelle). Wird dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt (vorläufiger starker Insolvenzverwalter) oder wird das Insolvenzverfahren eröffnet, so tritt der Insolvenzverwalter als Vertreter i.S.d. § 34 Abs. 3 AO auf. Er kann alle Auskünfte über Verhältnisse des Schuldners erhalten.[12] Gegenüber einem sogenannten schwachen Insolvenzverwalter (ohne allgemeines Verfügungsverbot des Schuldners) ist das Steuergeheimnis uneingeschränkt zu beachten.
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In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass bei einer auf Veranlassung des Finanzamts abgegebenen eidesstattlichen Versicherung, die auf falschen Angaben beruht, neben der falschen Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB) auch die Steuerhinterziehung (§ 370 AO) tritt. Auch hier ist eine Durchbrechung möglich.
b) Zulassung in anderen Gesetzen, § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO
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Ziff. 2enthält eine praktisch wichtige Ausnahme für die Ausweitung des zunächst rein steuerlichen/steuerstrafrechtlichen Verfahrens auf weitere Sachverhalte und Straftatbestände: Die Offenbarung ist dabei zulässig, wenn sie an anderer Stelle im Gesetz ausdrücklich zugelassen ist.[13] Dies ist z.B. in § 31 Abs. 1 u. 2 AO (Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen), § 31a AO (Mitteilung zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und des Leistungsmissbrauchs) sowie § 31b AO (Mitteilungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung) aufgrund der hier sogar geregelten grundsätzlichen[14] Verpflichtung der Fall. Sofern im Zusammenhang mit den hiernach letztlich zwingend an öffentlich-rechtliche Körperschaften , an Sozialversicherungsträger sowie die Gemeinden im Zusammenhang mit der Grundsteuer nach § 31 Abs. 1 – 3 AO bzw. die Bundesagentur für Arbeit [15] ( § 31a AO ) und das Bundeskriminalamt ( § 31b AO ) Verdachtsmomente weitergereicht werden, können sich ursprünglich begrenzte Steuerstrafverfahren ausdehnen auf Ermittlungen wegen Nichtsteuerstraftaten (Betrug, Subventionsbetrug,[16] Geldwäsche etc.). Mit dem Jahressteuergesetz 2010[17] wurden die Finanzämter außerdem verpflichtet, Ordnungswidrigkeiten, die ein nach § 2 GWG Verpflichteter (z.B. Immobilienmakler oder Personen, die gewerblich mit Gütern handeln) begeht, an die Verwaltungsbehörde (i.d.R. die Regierungspräsidien) weiterzuleiten. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Verstöße gegen die Identifizierungs- und Aufzeichnungspflichten (§ 17 GWG). Eine Weiterleitung hat jedoch zu unterbleiben, wenn die Ordnungswidrigkeit bereits offensichtlich verjährt ist, was gem. § 31 Abs. 2 Nr. 1 OWiG regelmäßig nach drei Jahren der Fall ist. Weitere praxisrelevante ausdrückliche Durchbrechungen des Steuergeheimnisses sind in der AO geregelt in § 117 AO i.V.m. EU-Amtshilfegesetz[18] (EUAHiG; zwischenstaatliche Rechts- und Amtshilfe in Steuersachen) sowie in den §§ 117a und 117b AO, mit denen der Rahmenbeschluss der EU zum Austausch von Informationen und Erkenntnissen der Mitgliedsstaaten zwischen den für die Strafverfolgung zuständigen Behörden (Rechtshilfe) umgesetzt wurde und der § 117c AO zur Umsetzung internationaler Vereinbarungen zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten; außerhalb der AO sind als weitere Durchbrechungsbefugnisse zu nennen etwa in § 87 Abs. 4 AufEntG (Übermittlungsbefugnis an Ausländerbehörden); § 8 Abs. 2 KWG (Mitteilung von Steuerstrafverfahren und Selbstanzeigen an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaussicht);[19] § 153a GewO (Mitteilung von Steuerordnungswidrigkeiten an das Gewerbezentralregister); § 21 Abs. 4 SGB X (Auskünfte des Finanzamts über Einkommens- oder Vermögensverhältnisse an Sozialbehörde); §§ 5 Abs. 2, 10, 10a StBerG (Anzeige unbefugter Hilfeleistung für Bußgeldverfahren bzw. Befugnis zur Mitteilung über steuerliche Verfehlungen der Angehörigen der steuerberatenden Berufe an die zuständigen Berufskammern; § 10a StBerG enthält eine Offenbarungspflicht für fortgesetzte Taten);[20] § 5 Abs. 2 Nr. 2 Bst. a i.V.m § 43 Abs. 2 WaffG . Im Einkommensteuerrecht besteht über § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG seit 1999 bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 5[21] eine Mitteilungspflicht bei Bestechungsdelikten, ebenso wie eine Mitteilungspflicht des Bundeszentralamt für Steuern an den Sozialleistungsträger nach § 45d Abs. 2 EStG , bzw. der Familienkasse an den öffentlich-rechtlichen Dienstherrn, § 68 Abs. 4 EStG.
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