Duri Rungger
Tod am Silsersee
Duri Rungger
Tod am Silsersee
Kriminalroman
orte Verlag
Die Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit reellen Begebnissen und lebenden Personen wären zufällig.
Für Lisi, mit herzlichem Dank für ihre kritischen Kommentare.
Der Autor
© 2017 orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Janine Durot
Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
Gesetzt in Times New Roman
ISBN: 978-3-85830-219-9
ISBN eBook: 978-3-85830-226-7
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
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1
Samstag, 7. 7. 1962
Der Aufenthaltsraum im Hotel Waldhaus in Sils Maria war heute schwach besetzt. Die meisten Gäste hatten sich bei diesem prächtigen Wetter auf ausgedehnte Wanderungen begeben und waren noch nicht zurückgekehrt. Im Verlauf des Teekonzerts würden sie nach und nach hereintröpfeln. Anita Iseli, geborene Gloor, Apothekerin aus Aarau, hatte sich einen Tisch am Panoramafenster in einiger Entfernung vom Orchesterpodium ausgesucht, um noch einigermassen in Ruhe lesen zu können, wenn die Musik einsetzte. Sie war Mitte vierzig, schlank, und trug ein anthrazitfarbenes Kostüm mit langem Rock und einer modischen kragenlosen Jacke. Die blassgrüne Bluse passte gut zu ihrem dunkelblonden, gewellten Haar, durch das sich erste graue Strähnen zogen. Am Tisch neben ihr hatte sich Margrit Morf aus Basel niedergelassen. Anita plauderte manchmal mit der untersetzten, grauhaarigen Dame, die oft mit ihrem verwirrten Mann Konrad hier sass und vergeblich versuchte, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen. Doch heute war sie allein und derart in ihr dickes Buch vertieft, dass sie ihren Tee unberührt erkalten liess.
Anita war nicht in der richtigen Stimmung, um zu lesen, und sah sich ein wenig in der Halle um. Durch die riesigen Fenster des nach Norden ausgerichteten, halbrunden Vorbaus, in welchem sie sass, drang am Nachmittag nur indirektes Sonnenlicht, was an einem heissen Tag wie diesem vorteilhaft war. Der hintere Teil des Saals wurde durch zwei grosse Oberlichter sanft erhellt. Die farblich fein abgestimmten, um kleine Tische gruppierten Polstersessel, die edlen Perserteppiche und die prächtigen, auf Marmorsockeln aufgestellten Blumensträusse ergaben eine leicht pompöse und doch äusserst gemütliche Atmosphäre.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle besprach eine Familie ihre Reisepläne. Der Vater, ein knochiger älterer Herr, der farblose Sohn und das kecke Töchterchen kamen im Moment zwar nicht dazu, etwas zu sagen. Die Mutter, eine aufgedonnerte Dame in schwarzer Seidenbluse, weiten Hosen und silbernen, hochhackigen Schuhen fuchtelte mit der Strassenkarte in der Luft herum und bemängelte lautstark die Nachteile der vorgeschlagenen Routen: zu viele staubige Naturstrassen bei der einen, schäbiges und unzumutbares Hotel für den Zwischenhalt bei der andern. Die hochgeschraubten Ansprüche der Frau passten zu ihrem übertriebenen Make-up und den krallenartigen, silbernen Fingernägeln.
Schliesslich wurde es dem Papa zu bunt. Er stand auf und bemerkte trocken: «Umso besser! Du wolltest ja unbedingt nach Venedig. Für mich ist die Stadt in der Hochsaison sowieso unerträglich. Verschieben wir das auf ein anderes Mal. Ich gehe gleich zur Réception und verlängere unsern Aufenthalt hier um ein paar Tage.» Er liess seine verdutzte Gattin sitzen, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Anitas Blick wanderte zu zwei französisch sprechenden Paaren, die einige Tische von ihr entfernt derart erregt diskutierten, dass sie jedes Wort hätte verstehen können, wenn ihr Französisch etwas besser gewesen wäre. Die häufige Erwähnung des Wortes «Oran» machte ihr aber rasch klar, dass es um das schreckliche Massaker ging, das dort durch die Unabhängigkeitserklärung Algeriens ausgelöst worden war. Die heutigen Zeitungen hatten ausführlich darüber berichtet.
Die Musiker nahmen ihre Plätze ein und stimmten die Instrumente. Anita schaute auf die Uhr. Es war kurz vor vier, und ihr Mann war noch nicht von seinem Spaziergang zurückgekehrt. Erwin hatte sich nach dem Mittagessen verabschiedet, um im Zwiegespräch mit der Natur Inspirationen für ein neues Gedicht zu schöpfen, wie er sagte. Sie hatte nie verstanden, wie er unter blauem Himmel in einer Blumenwiese sitzen und dabei Zeilen von abgrundtiefer Traurigkeit in sein Heft kritzeln konnte. Seine Gedichte waren sprachlich und rhythmisch ausgefeilt, wenigstens soweit sie dies beurteilen konnte, doch schlicht und einfach deprimierend. Im gegenwärtigen Wirtschaftsboom hatten die Leute weder Zeit noch Lust, Klagelieder zu hören, geschweige denn solche zu lesen. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die so dachte. Auf jeden Fall hatte ihr bedauernswerter Poet trotz unermüdlicher Bemühungen keinen Verleger gefunden, der bereit gewesen wäre, auch nur ein einziges seiner Gedichte zu veröffentlichen – und schon gar nicht einen ganzen Band davon. Seine gesammelten Werke hätten ein Buch ergeben, das selbst in Kleindruck noch dicker ausgefallen wäre als die Lektüre ihrer Nachbarin am Nebentisch.
Sie zog tief die Luft ein. Erwin tat ihr leid. Für ihn stand früh fest, dass er Germanistik studieren und Literaturwissenschaftler werden wollte. Doch im Gymnasium war er von den technischen Fächern völlig überfordert. Nach zwei Rückversetzungen verliess er gezwungenermassen die Aargauer Kantonsschule und arbeitete als Aushilfe in der Buchhandlung am Graben, die zu seinem Verdruss bald zum bevorzugten Treffpunkt seiner ehemaligen Klassenkollegen wurde. Anita war eifrige Leserin und treue Kundin in diesem Laden und hatte Erwin dort kennengelernt. Der scheue junge Mann, der aufblühte, wenn er sie beraten konnte, hatte ihr gefallen. Wenn er mit ihr über Literatur diskutierte, vergass er seine Zurückhaltung und konnte geistreich, ja manchmal auch witzig diskutieren. Sonst hätte sie ihn nicht geheiratet, so gutaussehend er auch war – damals wenigstens.
Ihr gemeinsames Glück dauerte jedoch nicht lange. Erwin zog sich immer mehr in sich zurück und wurde griesgrämig. Es war klar, dass dies mit seiner unbefriedigenden Arbeit zusammenhing, und so schlug sie vor, er solle die Buchhandlung verlassen und zu Hause ungestört an seinen Gedichten arbeiten. Finanziell gesehen war diese Lösung sogar von Vorteil. Sie hatte die Apotheke ihres Vaters in Aarau übernommen, und der diplomierte Apotheker, welcher sie bis dahin halbtags vertreten hatte, verdiente bedeutend mehr als Erwin mit seiner Vollbeschäftigung in der Buchhandlung. Nun konnte sie unbeschwert ganztags in der Apotheke arbeiten, während ihr Mann über Haus und Garten wachte. Für praktische Arbeiten war er zwar nicht geeignet, liess aber die Putzfrau und den Gärtner ungestört arbeiten – und leerte zuverlässig den Briefkasten. Spitze Bemerkungen über sein Dasein als Hausmann bekam er kaum zu hören, da er mit niemandem verkehrte.
Anfänglich war er begeistert, sich ganz seiner Dichtkunst widmen zu können, sass zu Hause, im Garten oder an der Aare, nagte an seinem Bleistift, feilte an seinen Gedichten und schien zufrieden. Doch als er versuchte, seine Werke zu publizieren und eine Absage nach der anderen erhielt, verbitterte er zusehends. Um ihn aufzumuntern, hatte sie vorgeschlagen, zumindest einen ersten Band von Gedichten im Selbstverlag herauszugeben. Sie wäre gerne für die Kosten aufgekommen, doch ihr gutgemeinter Vorschlag hatte ihn tief beleidigt.
Anita seufzte und trank einen Schluck von ihrem Weisswein, der inzwischen lauwarm geworden war. Sie nahm ihr Buch zu Hand, kam aber nicht dazu zu lesen, denn soeben erschien ihr Mann unter der Türe. Seine gebeugte Haltung und das schüttere Haar liessen ihn viel älter erscheinen, als er war, und sein jämmerlicher Gesichtsausdruck verstärkte diesen Eindruck. Anita runzelte die Stirn. Der Tag im Freien hatte ihn offensichtlich nicht aufgeheitert.
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