«Doch jetzt läuft Ihr Geschäft offensichtlich auf Hochtouren. Sind Sie nicht überlastet?»
«Wenn Sie mit ‹offensichtlich› auf unser Cabriolet und die Suite hier anspielen, so muss ich doch darauf hinweisen, dass ein teurer Wagen öfter mit Schulden als mit Vermögen einhergeht. Aber unsern Cadillac habe ich tatsächlich bar bezahlt. Was das Schreiben betrifft, meine Agentur läuft ausgezeichnet. Ich habe tüchtige Angestellte, welche die Kleinarbeit für mich erledigen, und lasse nur noch meine Beziehungen spielen, spüre unbebaute Wiesen auf, stecke meine Nase in jedes baufällige Haus und entscheide, welche Objekte uns interessieren könnten. Dann nehme ich Kontakt mit widerstrebenden Grundbesitzern auf, und meistens kriege ich sie herum.» Brunner lächelte zufrieden. «Meine schriftstellerische Tätigkeit wird dadurch erleichtert, dass Ingrid Koch, meine rechte Hand im Büro, so liebenswürdig ist, mir den Text vom Diktiergerät ins Reine zu tippen.»
«Tönt sehr bequem», warf Iseli geringschätzig ein. Er hatte das Gespräch doch mitgehört.
«Agatha Christie hat das auch so gemacht und trotzdem einige Bücher verkauft», bemerkte Brunner schlagfertig. Dann wandte er sich wieder Frau Iseli zu: «Wie dem auch sei, die Handlung meines Romans ist fertig, doch etwas fehlt noch: Der Mörder in meiner Geschichte ist Schriftsteller, und ich möchte jedes Kapitel mit einem Gedicht einleiten, das die Stimmung und den Ablauf der Handlung untermalt. So werde ich notwendigerweise zum ‹Verslibrünzler›, wie Sie, Erwin, einen Anfänger wie mich wohl bezeichnen würden. Perfekt müssen die Verse nicht sein. Ich schiebe sie ja dem Dichterling meiner Geschichte unter – und der ist alles andere als genial.» Brunner lachte zufrieden.
Iseli kaute an etwas herum, blieb jedoch lange stumm. Endlich bezwang er seinen Widerwillen und schlug vor: «Wie wäre es, wenn Sie Gedichte von mir in Ihrem Roman verwenden würden? In meiner Sammlung findet sich bestimmt ein Passendes zu jedem Thema Ihrer Geschichte.»
«Davon bin ich überzeugt», mischte Anita sich ein, die noch über Erwins abschätzige Bemerkung von vorhin erbost war. «Deine Gedichte sind finster wie die Nacht und würden bestimmt in den schauerlichsten Kriminalroman passen.»
Brunner suchte nach einem Ausweg. «Nun, wenn es mit meiner Dichtung nicht klappt, komme ich gerne auf Ihr freundliches Angebot zurück, aber ich habe bereits einige Ideen und möchte es zuerst einmal selbst versuchen. Auch wenn die Verse etwas holperig herauskommen, kann ich sie im Krimi trotzdem publizieren …»
«… und bleiben nicht jahrelang darauf sitzen wie ich. Danke, das ist sehr liebenswürdig.» Iseli stand abrupt auf und ging. Nicht einmal Selinas entschuldigende Geste vermochte ihn zurückzuhalten.
2
Samstag, 7. 7. 1962
Caminada blätterte entnervt im Papierstapel, der sich während der vergangenen hektischen Wochen auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatte. Ein Arbeitsunfall mit einem Toten, eine Messerstecherei mit einem Schwerverletzten, ein Säufer, der seine Familie drangsalierte, und eine Serie von Einbrüchen hatten ihn auf Trab gehalten, und er war nie dazugekommen, die dazugehörigen Rapporte zu schreiben. Er dachte mit Wehmut an die Zeit, als Tscharner noch bei ihnen im Büro arbeitete und ihm jeweils saubere Zwischenrapporte mit angehefteten Belegen auf den Tisch legte. Aber Claudio war wieder zur Stadtpolizei zurückberufen und dank des halben Jahres, das er bei der Kriminalpolizei verbracht hatte, an eine höhere Stelle befördert worden. Caminada mochte ihm dies von Herzen gönnen, doch die Rapporte musste er nun wieder selbst schreiben. Wenigstens hatte er die Fresszettel mit seinen hastig hingeworfenen Notizen thematisch geordnet – er konnte nur hoffen, dass in der Eile keiner in der falschen Beige gelandet war.
Er kaute an seinem Bleistift und schaute aus dem Fenster auf den Pizokel hinüber. Der bewaldete Kegel des Churer Wahrzeichens gefiel ihm zwar, doch der Berg stand einfach am falschen Ort. Im Winter raubte er bis auf wenige Morgenstunden einem Grossteil der Stadt die Sonne, und im Sommer spendete er nicht den geringsten Schatten. Und heute war es wieder einmal drückend schwül. Doch er musste durchhalten. Die Hochjagd wurde erst im September eröffnet, und er wollte seine Ferien für diese Zeit aufsparen.
Mit einem unwilligen Knurren zog er den dünnsten Stapel zu sich, legte ein leeres Blatt Papier daneben und schrieb:
Messerstecherei, Samstag, 5. Mai 1962. Weiter kam er nicht. Sein Chef, Kommissar Raeto Zinsli, stürmte ohne anzuklopfen ins Büro. «Lass alles liegen, Roc! Wir haben einen Toten!»
Caminada wagte nicht auszusprechen, wie gelegen ihm dieser Todesfall kam und beschränkte sich auf ein trockenes:
«Wo?»
«Im Engadin.» Der kleingewachsene Zinsli kletterte auf einen Stuhl und erklärte: «Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, liegt am Ufer des Silsersees – kein Badeunfall, die Leiche ist bekleidet. Er scheint von einem Felsen der Halbinsel Chasté gestürzt zu sein.»
«Und was ist daran verdächtig? Gewöhnliche Unfälle werden doch sonst von der lokalen Polizei untersucht.»
«Das war auch der Fall, aber der Polizist von Sils hat bemerkt, dass der Tote auffällige Kratzspuren im Gesicht trägt.»
«Die kann er sich doch auch beim Sturz durch ein Gebüsch zugezogen haben.»
«Der Landjäger behauptet, das sei unmöglich, und hat sich deshalb entschlossen, uns zu alarmieren. Ich weiss nicht, was an diesen Kratzern besonders sein soll … aber egal, ziehst du es vor, hier am Schreibtisch zu hocken, oder fährst du lieber ins schöne Engadin?»
«Was für eine Frage!» Caminada stand auf und deutete auf seinen Schreibtisch. «Dann müssen die Rapporte eben noch länger warten.»
«Frau Rizzi kann ja während deiner Abwesenheit daran arbeiten», schlug Zinsli vor. «Sie macht das sehr gut, wenn ich sie nett darum bitte.» Zinsli musterte mit zusammengekniffenen Augen die Notizen seines Freundes und fügte dann einschränkend bei: «Wenn sie deine Handschrift nicht lesen kann, bist du allerdings selbst schuld.»
Eine halbe Stunde danach hatte Caminada die Lenzerheide bereits überquert. Der Ausblick ins Oberhalbstein und auf die Berge vermochte ihn heute nicht zu begeistern. Zu viele unangenehme Erinnerungen an einen brutalen Mord waren mit der Gegend verbunden. Erst nachdem er Savognin hinter sich gebracht hatte, konnte er sich von diesen düsteren Gedanken befreien und begann, die Fahrt zu geniessen. Die Alpenrosen am Julier standen in prächtiger Blüte. Am liebsten hätte er eine kurze Rast eingelegt, hatte aber keine Zeit dazu.
Während er den Silvaplanersee entlang fuhr, wähnte er sich in einem Touristenprospekt: hellblauer Himmel, weisse Gipfel und Firne, grüne Wiesen, blaues, vom Malojawind gekräuseltes Wasser. In Sils Baselgia stellte er den VW vor der Pensiun Chasté ab, wo der Dorfpolizist, Peider Clalüna, auf ihn wartete. Caminada begrüsste den knochigen, braungebrannten Kollegen, bestellte sich einen Kaffee und nachdem sie ein wenig geplaudert hatten, liess er sich über den Leichenfund informieren.
«Ein Feriengast ist heute früh in seinem Boot um die Halbinsel Chasté gerudert. Da sah er einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen hervorleuchten. Er legte an, kletterte den steilen Abhang hoch und fand den Toten mit einem lose um den Hals geschlungenen roten Seidenschal. Ohne dieses auffällige Tuch wäre die Leiche wohl noch lange nicht entdeckt worden.» Clalüna nickte nachdenklich, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fügte dann bei: «Der Schädel des Toten ist eingeschlagen, doch das kann auch beim Aufprall geschehen sein. Ich habe Chur alarmiert, weil sich im Gesicht des Toten zwei seltsame, auffallend ähnliche Kratzspuren befinden. Auf der einen Wange verlaufen sie fast senkrecht, auf der anderen horizontal. Sie können nicht durch Äste eines Gebüschs verursacht worden sein.»
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