Der Concierge sah Caminada tadelnd an. «Sie wollen doch nicht weggehen, ohne die Frau des Vermissten informiert zu haben?»
«Doch, das möchte ich. Stellen Sie sich vor, ich erzähle der Gattin, wir hätten einen Toten gefunden, von dem wir nicht wissen, ob es ihr Mann sei – und nachdem sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen ist, spaziert der Vermisste hier zur Türe …» Weiter kam er nicht.
«Haben Sie vom Vermissten gesprochen? Ich bin seine Frau und habe ein Recht zu erfahren, was Sie wissen.»
Caminada drehte sich zu der jungen Frau um und erstarrte. Sie sah seinem verschollenen Patenkind Julia ähnlich: bildhübsch mit hellblauen, mandelförmigen Augen, leicht vorstehenden Backenknochen und schwarzem Haar, doch im Unterschied zu Julia, die ihr glattes Haar kurz trug, war es bei der Frau, die jetzt vor ihm stand, wild gelockt. Er schloss die Augen. Wie viele Jahre waren vergangen, seit Julia verschwunden war?
«Bitte, ich habe Sie etwas gefragt.»
Caminada erwachte aus seiner Starre. «Entschuldigung, Frau Brunner, natürlich – vielleicht könnten wir uns an einem ruhigeren Ort unterhalten.» Er sah sich suchend um, und der Concierge deutete auf den Korridor, der zur Bibliothek führte. Er wusste, dass sich im Moment kein anderer Gast dort befand.
Der dunkel getäferte Raum mit seinen kleinen Schreibtischchen und vollen Bücherregalen strahlte Ruhe aus. Kein übler Ort für eine heikle Unterredung, auf die Caminada trotzdem gerne verzichtet hätte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fiel es ihm nicht leicht, einen unverfänglichen Anfang zu finden. «Ich bin nicht sofort zu Ihnen gekommen, weil wir noch nichts Genaues wissen, und ich Sie nicht unnötig aufregen wollte.»
«Aufregen? – Also ist etwas Schlimmes passiert», schloss die junge Frau scharfsinnig.
Caminada schickte sich ins Unvermeidliche. «Heute früh wurde bei Chasté eine Leiche gefunden. Wir wissen nicht, ob es sich um Ihren Mann handelt. Ich kann die Leiche auch nicht beschreiben. Sie ist ins Spital von Samedan gebracht worden, bevor ich sie sehen konnte.»
Die junge Frau stand auf. «Auf was warten Sie? Gehen wir!»
Caminada sah ein, dass es zwecklos war, Einwand gegen diesen berechtigten Anspruch zu erheben.
Sie wollten eben in Caminadas Käfer einsteigen, als ein schwarzer Jaguar auf den Parkplatz einfuhr und neben ihnen anhielt. Der Besitzer des noblen Gefährts, ein Herr Welti, wenn er den Namen richtig verstanden hatte, erkundigte sich bei Frau Brunner teilnahmsvoll, ob es Neuigkeiten zum Verbleib ihres Mannes gebe. Als er erfahren hatte, wohin sie wollte, bestand er darauf, dass sein Chauffeur, Gennaro Esposito, sie und den Herrn Kommissar in seinem Wagen nach Samedan bringe: «Sie können in Ihrem Zustand doch unmöglich in dieser klapprigen Kiste fahren.»
Kurz darauf sassen sie im Fond des Jaguar S, der viel zu schnell über die kurvige Seestrasse Richtung St. Moritz raste. Caminada nahm weder die Geschwindigkeit noch die luxuriösen Lederpolster und Holzverkleidungen des Gefährts wahr. Er ärgerte sich über seine Ungeschicktheit. Kurz nach der Abfahrt hatte er seine Begleiterin gedankenlos gefragt, ob ihr Mann vielleicht ein rotes Halstuch getragen habe. Sie hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und schluchzend seine Hand umklammert. Er hätte die verzweifelte Frau gerne getröstet, fand aber nicht die richtigen Worte dafür. So beschränkte er sich darauf, seine Hand auf die ihre zu legen.
Die Identifizierung verlief weniger dramatisch als Caminada befürchtet hatte. Die Leiche lag auf einem weissen Laken, und eine gute Seele hatte einen kleinen Strauss von Feldblumen auf die Brust des Toten gelegt. Die eingeschlagene Schädeldecke war mit einem Tuch abgedeckt und die Kratzer im Gesicht kaum sichtbar. Selina Brunner sah den Toten still an, legte ihm die Hand auf die Stirn und bestätigte leise: «Ja, das ist Martin.» Dann schloss sie die Augen und blieb reglos stehen.
Caminada liess ihr Zeit, den Schock zu verarbeiten. Das gab ihm auch die Gelegenheit, sich die Kratzspuren im Gesicht genauer anzusehen. Auf der linken Wange verliefen sie vom Auge fast senkrecht zum Mundwinkel, auf der rechten hingegen quer von der Nase zum Ohrläppchen. Das allein schloss nicht aus, dass die Kratzer durch Äste verursacht wurden. Der Körper konnte sich während des Sturzes überschlagen haben. Es war hingegen höchst unwahrscheinlich, dass zwei verschiedene Äste derart ähnliche Spuren, bestehend aus vier parallelen Streifen, hinterlassen hätten. Clalünas Misstrauen war durchaus berechtigt.
Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Brunner ihn fragend ansah. Er nahm sie beim Arm und führte sie aus dem Raum. Da er noch mit dem Arzt sprechen musste, schlug er ihr vor, sie solle sich vom Chauffeur sofort ins Hotel zurückbringen lassen, er würde später mit dem Postauto nach Sils kommen.
Sie lehnte seinen gutgemeinten Vorschlag strikt ab und zog es vor, sich von Esposito zum Golfplatz fahren zu lassen. Von dort wollte sie einen Spaziergang am Flazbach unternehmen und in etwa zwei Stunden zurück sein.
Eine freundliche Krankenschwester begleitete Caminada zum Büro von Dr. Gianola, der den Toten geborgen und untersucht hatte. Der Arzt fasste sich kurz: «Viel kann ich leider nicht sagen. Der Unfall ist etwa zwanzig Stunden vor dem Auffinden der Leiche passiert, also gestern gegen Mittag. Der Tod wurde durch einen Schlag auf den Kopf herbeigeführt. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es sich um Mord handelt, der Mann kann sich den Schädel auch beim Sturz eingeschlagen haben.»
«Die Stelle, wo der Kopf auf einen Stein aufgeschlagen ist, habe ich gefunden», informierte Caminada den Arzt. «Aber es braucht nicht unbedingt einen Schlag auf den Kopf, um jemanden in einen Abgrund zu befördern. Ein Schubs reicht aus und hinterlässt erst noch keine Spuren – ist aber auch Mord. Jedenfalls sehen die Kratzer im Gesicht des Toten nicht so aus, als ob sie im Fallen durch ein Gebüsch verursacht worden wären. Sie müssen ihm vorher beigebracht worden sein.» Caminada hatte Mühe, sich vorzustellen, weshalb ein Mann, der damit beschäftigt war, Gedichte zu schreiben, in ein Handgemenge verwickelt wurde, doch die Kratzer waren nun einmal vorhanden. Trotzdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er glaube an einen kaltblütigen Mord, und fügte an: «Vielleicht gab es ein unschuldiges Gerangel, bei welchem Herr Brunner über die Mauer gestolpert und abgestürzt ist.»
Gianola wiegte zweifelnd den Kopf. «Clalüna hat mich auf die verdächtigen Kratzer aufmerksam gemacht, und ich habe sie mir inzwischen genau angesehen. Sie sind nicht unmittelbar vor dem Tod entstanden. Wie lange vorher, kann ich leider nicht genau sagen.» Der Arzt rieb sich mit dem Zeigfinger an der Nase und rang sich dann zur Aussage durch: «Mindestens zehn Minuten, höchstens eine Stunde vor dem Tod.»
Caminada dankte dem Arzt für diese wichtige Information und schickte sich an zu gehen.
«Viel Erfolg bei Ihren Nachforschungen», wünschte Gianola, während er dem Kommissar die Hand schüttelte. «Ich hoffe, dass es sich nicht um Mord handelt. Für die junge Witwe ist der Verlust ihres Mannes schon schwer genug zu ertragen. Er war erst vierzig Jahre alt, bester Gesundheit und physisch in beachtlicher Form.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Aber Unfälle nehmen keine Rücksicht darauf, wie lange das Opfer noch hätte leben können.»
«… Mord leider auch nicht, sonst würden nicht so viele junge Leute umgebracht», fügte Caminada bedauernd bei. Er machte einen Schritt zur Türe, blieb wieder stehen und stammelte verlegen: «Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Wäre es vielleicht möglich, etwas zu trinken und ein Stück Brot zu bekommen? Ich habe seit dem Frühstück nur einen Kaffee gehabt».
Читать дальше