Bevor er sein Zimmer bezog, wollte er beim Direktor vorsprechen und sich für dessen grosszügiges Angebot bedanken. Der Concierge erklärte ihm, dass der Chef sowieso jeden Gast persönlich begrüsse und ihn bereits erwarte. Conti führte den Kommissar zum Büro, klopfte an und bedeutete ihm mit einer leichten Verbeugung einzutreten.
Caminada bedauerte, dass er immer noch in seinem leicht abgewetzten, grauen Alltagsanzug steckte, in dem er zur Arbeit gegangen war, und fragte sich, ob der kleine Fettfleck auf der Krawatte, auf den ihn Beatrice vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht hatte, nicht allzu offensichtlich sei.
«Guten Abend Herr … », der Direktor zögerte nur eine Sekunde. « … Caminada, wenn es mir recht ist.»
«Freut mich, Sie zu kennenzulernen, Herr Direktor, ich wollte mich herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass ich hier wohnen darf.»
«Keine Ursache. Es ist in unserem Interesse, dass dieser Fall so rasch als möglich geklärt wird. Ich hoffe, Herrn Brunner sei nichts Schlimmes zugestossen und Sie finden ihn bald. Er ist ein grosszügiger und treuer Kunde unseres Hauses.»
«Leider ist er tödlich verunfallt. Seine Leiche wurde heute früh auf Chasté gefunden. Ich bin soeben mit Frau Brunner von Samedan zurückgekehrt, wo sie ihren Mann identifiziert hat.»
«Mein Gott», der Direktor sank in seinen Stuhl. «Das ist furchtbar!» Seine Erschütterung war echt, doch dann gewann die Sorge um den guten Ruf des Hotels die Oberhand: «Sie sind natürlich herzlich willkommen bei uns, doch gibt es einen bestimmten Grund, weshalb Sie hier bleiben, nachdem der Vermisste bereits gefunden wurde? Sagen Sie bitte nicht, dass es sich um ein Verbrechen handelt.»
«Wir sind nicht sicher. Es gibt einen Hinweis, dass vor dem Sturz ein Handgemenge stattgefunden hat.»
«Auch das noch!», seufzte der Hotelier. «Natürlich will ich Sie nicht bei der Arbeit behindern, doch ich flehe Sie an, die Hotelgäste so wenig wie möglich zu beunruhigen. Viele von ihnen wollen am Wochenende abreisen. Falls einige von ihnen länger hier bleiben müssen, sollten Sie mir dies so rasch als möglich mitteilen – wir sind nächste Woche ausgebucht.»
«Machen Sie sich keine Sorgen. Beim jetzigen Stand der Untersuchung kann ich niemanden daran hindern abzureisen. Im Moment habe ich auch keinen konkreten Verdacht. Falls ich allerdings herausfinden sollte, dass jemand den Unfall absichtlich herbeigeführt hat, werde ich sie oder ihn freundlich einladen, mich nach Chur zu begleiten.»
«Ich hoffe, dass Sie nichts dergleichen finden! Wenn Sie erfahren wollen, mit wem Herr und Frau Brunner hier verkehrten, können Sie das Personal befragen, vielleicht auch die Musiker, die sehen alles, was im Saal vorgeht.»
Und wenn ich das Personal befrage, muss ich die Gäste weniger belästigen, ergänzte Caminada in Gedanken den Ratschlag.
«Ich selbst weiss bloss, dass Herr und Frau Brunner oft mit dem Ehepaar Iseli aus Aarau zusammensassen. Sie besitzt dort eine Apotheke, und er ist freier Schriftsteller.» Der Direktor warf einen Blick auf die Uhr. «Ich stehe natürlich jederzeit zu Ihrer Verfügung, aber jetzt möchten Sie wohl das Dîner nicht verpassen.»
Caminada fasste sich nervös an den Krawattenknopf. «Ich bin heute direkt vom Büro weggefahren und habe keine passende Kleidung bei mir.»
«Ihre Kleidung ist durchaus in Ordnung. Heutzutage putzen sich die Gäste nicht mehr heraus wie früher, und wir pflegen eine entspannte Atmosphäre.» Er machte eine kleine Pause und fügte bei: «Falls Sie sich wirklich unwohl fühlen, kann ich Ihnen eine meiner Krawatten leihen.» Dem geübten Auge war der kleine Fleck nicht entgangen.
Der Direktor hatte dem Kommissar grosszügig ein schönes Zimmer mit Sicht auf den Silsersee und zum Malojapass zur Verfügung gestellt. Nachdem er sich in der Wanne abgeduscht hatte, band sich Caminada die hellblaue Seidenkrawatte um, die ihm der Direktor geliehen hatte, und bedauerte, dass er kein Rasierzeug bei sich hatte. Zum Glück fand er im Korridor einen Automaten, womit er wenigstens die Schuhe auf Hochglanz polieren konnte. Als er aus dem Lift stieg, blieb er erstaunt stehen. Zinsli war eben dabei, sich mit einem schweren Koffer durch die Drehtür zu zwängen und blieb prompt darin stecken. Der Portier beeilte sich, den unerwarteten Gast zu befreien und ihm den Koffer abzunehmen.
«Raeto, du hier? Ich hätte dich heute Abend noch angerufen. Deinem Gepäck nach zu schliessen, bleibst du für einige Wochen.»
«Das ist nicht mein, sondern dein Koffer! Beatrice hat mich gebeten, dir einige Kleider und das Waschzeug zu bringen. Du könnest unmöglich in deinen Klamotten in einem Luxushotel wohnen und solltest dich auch rasieren und die Zähne putzen.» Zinsli grinste hämisch.
«Es tut mir leid, dass Trixli dich dazu überredet hat, diese weite Fahrt zu unternehmen. Dabei hat der Herr Direktor mir soeben versichert, mein Anzug gehe in Ordnung – und mir eine saubere Krawatte dazu geliehen.»
«Hat er dir auch die Zähne geputzt?»
Caminada ging nicht auf Zinslis Geplänkel ein. «Gut, dass du da bist und wir reden können. Bleibst du zum Essen, oder fährst du sofort wieder heim?»
«Nein, das wäre mir zu mühsam. Ich habe ein Zimmer im Hotel Edelweiss reserviert und mein Gepäck dort eingestellt. Obwohl ich nur für eine Nacht bleibe, ist der Koffer, den Gabriella mir mitgegeben hat, fast so schwer wie deiner. Aber umgezogen habe ich mich trotzdem nicht», fügte er trotzig bei.
Caminada musterte Zinslis Anzug. Auch Raeto trug sein Alltagsgewand, das allerdings seiner kleinen Körpergrösse wegen massgeschneidert war.
Im Speisesaal führte der Kellner sie, ohne mit der Wimper zu zucken, an einen für zwei Personen gedeckten Tisch. Der Informationsfluss hinter den Kulissen schien im Hotel ausgezeichnet zu funktionieren. Kaum hatten sie Platz genommen, brachte der Herr Direktor eine erlesene Flasche Rotwein an den Tisch und begrüsste den Chef der Kriminalpolizei gebührend. Beim Weggehen drehte er sich um und bemerkte: «An diesem Tisch sind übrigens auch John F. Kennedy, Clara Haskil, Carl Gustav Jung und noch einige andere Berühmtheiten gesessen – nicht gemeinsam, natürlich.»
Als der Gastgeber ausser Hörweite war, flüsterte Zinsli: «Wenn er meint, mir sei vor lauter Ehrfurcht der Appetit vergangen, so täuscht er sich gewaltig.» Zinsli nahm die Weinflasche vom Tisch und sah sich die Etikette genauer an. «Alle Achtung, ein Pauillac Château Latour, grand cru, 1955. Der Herr Direktor ist wirklich sehr grosszügig.»
Während des Essens erzählte Caminada in allen Details, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte. Dann besprachen sie das weitere Vorgehen. Zinsli schlug vor, dass Roc ihm die Namen der Leute übermittle, welche Umgang mit Brunner hatten. Er würde genauere Erkundigungen über sie einziehen, vor allem darüber, ob Interessenskonflikte zwischen ihnen und Brunners geschäftlicher Tätigkeit bestanden.
Sie sassen noch am Tisch, als die meisten andern Gäste sich bereits zurückgezogen hatten. Zinsli nippte nachdenklich an seinem Glas. «Ich frage mich zwar, ob es sich lohnt, diesen Todesfall zu untersuchen. Die paar Kratzer in Brunners Gesicht kann ich nicht wegleugnen, doch sie sind ihm anscheinend einige Zeit vor dem Sturz beigebracht worden, wie der Arzt dir gesagt hat. Somit stellen sie nicht zwingend einen Beweis dar, dass der Unfall gewaltsam herbeigeführt worden ist – und so sehr ich deine Spürnase bewundere, Roc, ich zweifle daran, ob du je herausfindest, wer Brunner das Gesicht zerkratzt hat.» Zinsli nahm andächtig einen Schluck Wein und liess ihn genüsslich auf der Zunge zerrinnen. Dann zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel: «Aber lass dir ruhig Zeit, wenigstens ist deine Unterkunft preiswert …»
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