Ueli baute für das Haus einen riesengrossen Kleiderschrank, in dessen farbiger Bemalung er regelrecht aufging. In den Bergen hatte er zu diesem Zweck Färberpflanzen gesammelt. Manchmal widmete er winzigen Einzelheiten ganze Tage, und das Lob des Grossvaters spornte ihn noch weiter an.
Man schrieb das Jahr 1844. Ueli Kurt zählte achtzehn Jahre und war Vater eines Kindes. Es gab nicht viel Arbeit für Zimmerleute und Schreiner. Zwei Jahre waren seit dem Blutbad auf der Schwägalp vergangen, und die Familie hatte die beiden verbliebenen Lämmer verkaufen müssen. Die Kurts verarmten von Tag zu Tag mehr, und Ueli gab sich die Schuld daran. Denn der Vater hörte nicht auf, ihm den Verlust des Viehs vorzuhalten und trieb den Stachel tiefer und tiefer ins Fleisch.
Nach dem Tod des Grossvaters gingen die Aufträge weiter zurück. Niemand wollte einen Achtzehnjährigen beschäftigen. Als auch die Arbeit beim Klosterbau am Fuss des Kronbergs keinen Lohn einbrachte, stand die Familie vor einem sehr harten Winter. Der Mönch, der die Arbeiten leitete, hatte Uelis vierwöchige Arbeitsleistung mit einem Sack Kartoffeln und einer langen Gebetslitanei vergolten.
«Hochwürdiger Pater, ich hab daheim ein kleines Kind und mehrere Angehörige zu versorgen. Sie hoffen sehnlichst auf die paar Gulden, die ich mit nach Hause bringe. Sie haben sie bitter nötig. Könntet Ihr mir nicht etwas geben, damit ich sie ernähren kann?», bettelte Ueli, doch der Mönch fuhr ihn harsch an:
«Ach, wenn doch dein Grossvater noch lebte! Was würde er wohl dazu sagen? Deine Arbeit hier tust du für Gott, und er weiss dich sehr wohl angemessen zu entlohnen. Danke du besser Gott dafür, dass er dir Weib und Kind geschenkt hat! Um Gottes Lohn hast du hier ein paar Nägel eingeschlagen, und nun bist du mit dem Sack Kartoffeln nicht zufrieden, den er dir schenkt!» Nachdem der Mönch Ueli diese Worte voller Verachtung entgegengeschleudert hatte, drehte er sich um und schlurfte davon.
Wieder hatte Ueli für Gotteslohn gearbeitet … Nach seiner wochenlangen Arbeit an der Kirchentür hatte er ebenfalls zu hören bekommen, Gott wisse ihn angemessen zu entlohnen.
Hatte ihm Gott Rösli etwa als Lohn zur Frau gegeben und ihm das Vieh auf der Alp zum Dank vernichtet? «Wenn das mein Lohn ist, dann verzichte ich lieber darauf! Diese Wohltaten Gottes sind so ähnlich wie die gemeinen Ungeheuer, die mich im Traum verfolgen», ärgerte sich Ueli.
Er schulterte den Kartoffelsack und trat den Heimweg an. Wenn noch nicht einmal Gott mehr Geld hatte, dann brauchte man sich über gar nichts zu wundern. Ueli seufzte, als er an das Heft mit den geschuldeten Geldbeträgen dachte, das der Grossvater hinterlassen hatte.
Er hatte geglaubt, Rösli würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er mit nichts als dem Kartoffelsack ankäme, doch sie verhielt sich unerwartet anders.
«Gibt es denn etwas Schöneres, als Gott zu dienen, ohne etwas dafür zu erwarten? Wenn Gott eine Tür schliesst, macht er zugleich eine andere auf. Schau, ausgerechnet heute hat mir Pfarrer Johannes Zucker, Salz, Weissmehl und eine Menge Früchte gegeben.» Rösli deutete auf ein Bündel in der Küche.
«Wenn du ja sowieso den ganzen Tag bei dem Pfarrer bist, während meine und deine Mutter sich um Maria kümmern, kannst du dir gleich den Heimweg sparen und dort übernachten. Die Betten sind da bestimmt weicher als bei uns», ärgerte sich Ueli.
«Wenn du Geld nach Hause brächtest, bräuchte ich nicht putzen zu gehen. Dann könnte ich Essen und Kleidung für Maria und mich kaufen, und alles wäre gut. Hast du noch nicht gemerkt, dass das meiste von dem, was hier auf den Tisch kommt, von Pfarrer Johannes ist? Seit unserer Hochzeit schaust du mich nicht mehr an, du sprichst kaum noch mit mir. Deine ganze Zeit bringst du damit zu, Bilder auf deinen Kleiderkasten zu pinseln. Dein Vater hat dir doch schon so oft gesagt, dass es Unsinn ist, den Kasten dermassen herauszuputzen. Du verschwendest bloss deine Zeit damit. Ein Kasten ist dazu da, um Kleider hineinzuhängen. Aber du hörst ja nicht einmal auf deinen Vater. Und auf mich schon gar nicht. Pfarrer Johannes ist ganz anders. Er spricht mit mir. Er sieht in mir nicht nur seine Putzfrau, sondern ein Geschöpf Gottes mit Wünschen und Gefühlen. Und er bringt mir das Lesen bei! Ich möchte endlich auch lesen lernen. Während meine Kameraden zur Schule gegangen sind, habe ich Geissen und Schafe in die Berge treiben müssen. Mein Vater hat nicht eingesehen, wozu ein Mädchen in die Schule soll. Sie wird ja doch nur Hausfrau. Ich möchte eines Tages auch mehr kennenlernen als nur den Säntis und die Schwägalp!»
«Gut, gut, du hast ja Recht», wimmelte Ueli sie ab.
Das Jahr 1846 war für Ueli und seine Familie noch härter als das vorhergegangene. Schon Ende Januar waren alle Lebensmittel in der Vorratskammer aufgebraucht. Ueli stellte keine Schränke, Holzbänke und Kuhskulptürchen mehr her, sondern schleppte für einen Eimer Mais oder Gerste das Getreide der Bauern zum Mahlen zur Mühle von Heinrich Müller und wieder zurück. In der ersten Februarwoche machte Ueli sich nach Appenzell auf, um sich bei Herrn Dörig etwas Geld zu leihen.
An der Ladentür hing ein Schild, auf dem in riesigen Lettern zu lesen war: «Nur das Beste auf den Teller – Appenzeller». Und darunter etwas kleiner: «Einfach köstlich!» Das Geschäft von Herrn Dörig befand sich in der prächtigsten Gasse Appenzells. Die Fassaden der aneinander gebauten Holzhäuser waren mit Malereien geschmückt. Uelis grösstes Talent lag darin, sich jedes Detail merken zu können; was er einmal sah, blieb in seiner Erinnerung haften. Daher kannte er alle Appenzeller Händler, alle Geschäfte und deren Inhaber mit Namen – natürlich dank seines Grossvaters, der bei jedem Gang nach Appenzell ausgiebig mit allen geplaudert, während Ueli neugierig gelauscht hatte.
Im Geschäft von Herrn Dörig standen ein paar Bauern herum. Alle schrieen durcheinander, niemand hörte zu, und alle erzählten mehr oder weniger dieselbe Geschichte, nämlich wie gut die Eröffnung eines Hotels für Feriengäste in Weissbad sei. Dank der Gäste bekomme man einen besseren Preis für Käse, Handarbeiten und Gebirgskräuter.
Ein Dorfbewohner prahlte: «Letzten Sommer, als meine Kühe in Wasserauen auf der Weide waren, ist ein deutscher Feriengast zu mir gekommen und hat gefragt: ‹Verkaufst du mir eine Kuh, wenn ich eine haben will?› Ich hab geantwortet: ‹Sicher, gebt mir zwanzig Gulden, und ihr könnt die mitnehmen, die euch gefällt.› Der Deutsche hat gesagt: ‹Das ist sehr günstig, aber wie soll ich sie mit der Kutsche nach Deutschland bringen?› Wenn das mit der Kutsche einfacher wäre, hätte er mir auf der Stelle zwanzig Gulden für eine Kuh gegeben.»
Ein anderer Bauer fiel ein: «Sei froh, dass er kein Auge auf dein Weib geworfen hat! Was hättest du gemacht, wenn er sie hätte mitnehmen wollen? Da gäb es kein Problem in der Kutsche. Sie könnte bei dem Deutschen auf dem Schoss sitzen!»
Da blieben schlagfertige Antworten nicht aus: «Hätte ich doch so ein Glück! Wenn er meine Frau gewollt hätte, da hätte ich ihm die Kuh noch mit dazu gegeben!»
Im Geschäft brach dröhnendes Gelächter aus.
Herr Dörig mischte sich ein: «Das Interesse der Fremden an unseren Produkten rührt von den Molkenkuren her. Sie kommen dafür aus England, Frankreich, Deutschland und Österreich hierher. Wenn die Kurgäste nach der Molkenkur froh und erholt heimfahren, kaufen sie, soviel sie nur mitnehmen können. Vielleicht lacht euch irgendwann auch das Glück und jemand kauft eure Frau für ein schönes Sümmchen. Da habt ihr dann zwei Fliegen mit einer Klappe: Ihr seid das Genörgel los und habt leichtes Geld verdient.»
Wieder brach im Laden ein lautes Grölen los. Lange wartete Ueli Kurt in einer Ecke, dass die lustige Unterhaltung ein Ende fände, und lachte derweil mit.
Читать дальше