Julia fing sehr betont zu sprechen an: «Sag einmal, stimmt es, dass du die Kirchentür gemacht hast? Die Reliefs und das Schnitzwerk sind grossartig! Wenn das wirklich dein Werk ist, dann muss ich sagen: Hut ab!»
Ueli schluckte. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Kniend fuhr er fort, den Poliersand mit der Steinwalze über das Parkett zu reiben. Julia zog ihren langen Rock bis zu den Knien hoch und hockte sich vor ihm hin. Mit beiden Händen packte sie die Griffe des Poliersteins. Ihre zarten, warmen Finger berührten Uelis Hände.
«Bist du mir etwa böse? Sprichst du nicht mehr mit mir? Immer, wenn ich mit dir zwei Worte wechseln will, wendest du dich ab.»
Ueli wurde hochrot im Gesicht. Mit bebender Stimme stotterte er: «Nein, ich bin ganz bestimmt nicht böse auf dich.»
Der Grossvater, der gerade dabei war, den Namen Schmied in die Ecke einer Tür des Wohnzimmerschranks zu malen, konnte das Schauspiel nicht länger mitansehen. «Die Tür hat wirklich er gemacht. Nicht einmal ich hätte das so gut gekonnt.»
«Ein richtiges Kunstwerk! So schöne Motive gibt es nicht einmal am Dom von St. Gallen. Noch nicht einmal in Zürich oder Genf habe ich so etwas gesehen.»
Ueli verstand nicht ganz, was Julia meinte.
«Willst du damit sagen, dass du in deinem Alter schon in Zürich und Genf warst?», fuhr der Grossvater dazwischen.
«Ja, was ist denn dabei? Das sind doch heutzutage keine Entfernungen mehr. Mit der Kutsche meines Vaters sind wir an einem Tag von St. Gallen nach Zürich gefahren. Und in drei Tagen nach Genf. Oh, Zürich müsst ihr unbedingt sehen. Abends ist die ganze Stadt von Gaslaternen erleuchtet. Man kann durch die Stadt promenieren, ohne sich zu fürchten. Und tagsüber die vielen Kutschen, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Hunderte von Bekleidungsgeschäften gibt es da, sogar Uhrenläden, alles, was ihr euch nur ausmalen könnt … Ja, also, es ist besser, wenn Vater nicht sieht, dass ich mit euch spreche. Ich muss jetzt auf mein Zimmer.»
Wie ein Schmetterling schwirrte sie davon und mit ihr Uelis Verstand. Es dauerte lange, bis er mit den Gedanken wieder bei der Arbeit war. Unkonzentriert liess er den Polierstein vor und zurückgleiten.
Der Grossvater schmunzelte in seinen Bart hinein: «Noch nicht ein einziges Wort hast du mit dem Mädchen gesprochen. Wenn du sie siehst, schmilzt du dahin. Wenn das nicht Liebe ist! Aber dafür ist es zu spät! Du bist ja schon so gut wie verheiratet.»
Als sie abends erschöpft und müde nach Hause gingen, packte Ueli den Grossvater am Arm: «Wäre es nicht besser, ich würde Julia heiraten? Dann wäre ich nicht mehr arm und ausserdem mit einer Frau zusammen, die ich liebe!»
Der alte Kurt nahm die Pfeife aus dem Mund und blies den Rauch aus. Wie immer lachte er erst einmal lange. Dann nahm er Ueli bei der Schulter und sah ihm halb spöttisch, halb ernst in die Augen. Als er den Jungen wieder losliess, schien es schon, als würde er gar nichts sagen. Doch dann schüttelte er ihn, wie um ihn aus einem Traum aufzuwecken: «Erstens: Wenn du Hunger hast, träumst du von Brathuhn. Alles ist möglich! Zweitens: Vergiss nicht, dass es zu Hause nur trockenes Brot und Kartoffelsuppe gibt. Drittens: Du verstehst noch nicht einmal, was Julia redet. Du bist nur bis zur zweiten Klasse gekommen, aber sie geht immer noch zur Schule. Viertens: Wir beide haben einen Bärenhunger. Es gibt nichts Schöneres, als heute Abend satt zu werden. Fünftens: Vergiss es. Gib in deinen Zukunftsträumen auch Rösli einen Platz. Dein Vater, dein Onkel, deine Mutter und deine Tante wollen es so.»
«Willst du auch, dass ich Rösli heirate?»
«Ich will dir verraten, was mein Herz mir sagt: Nein, ich will es nicht. Du solltest dir deine Frau selbst aussuchen können. Du müsstest sogar in sie verliebt sein. Die Ehe besteht nicht nur darin, der Familie ihre Kartoffeläcker zu erhalten. Doch so denken nur du und ich. Die anderen um uns herum denken anders. Wir sind in der Minderheit und können das nicht ändern. Der Stärkere siegt, nicht der, der im Recht ist. Und sie sind stärker und zahlreicher. Du bis sechzehn, und ich stehe mit einem Bein schon im Grab. Verstehst du? Im Leben ist es oft so, dass wir uns einer Sache beugen müssen, die wir nicht wollen.»
«Warum sagst du das nicht deinen Söhnen? Du kannst ihnen erklären, dass es diese Heirat nicht geben darf.»
«Glaubst du denn, ich hätte es ihnen nicht gesagt? Natürlich habe ich das! Sie meinten, ich sei unfähig, die Wirklichkeit zu sehen. Wenn man fünf Leuten gegenübersteht, die das sagen, fängt man selbst an, es zu glauben.»
Der Grossvater hatte den vierten Punkt ein wenig scherzhaft gesagt, aber er war tatsächlich sehr hungrig und hatte keine Kraft mehr für diese Diskussion.
«Schon gut, ich habe verstanden. Aber Rösli war überhaupt nicht in der Schule, also passt sie auch nicht zu mir. Und Julia geht zwar immer noch zur Schule, aber könnte sie so eine Kirchentür machen?»
«Du hast Recht, daran hatte ich nicht gedacht.»
Sie lachten.
Julia sollte Ueli noch oft im Traum erscheinen, auch nach der Hochzeit mit Rösli. Als er klein war, hatte er sogar geträumt, dass sie am Bach im Gras lagen und sich küssten. Meistens träumte er, mit Julia viele Kinder zu haben und in einem grossen Haus nahe am Bach zu leben, vor dem Kutschen standen.
Wenn Rösli die Bilder junger Mädchen betrachtete, die Ueli schnitzte oder malte, wurde sie ärgerlich: «Warum sehen diese Mädchen immer aus wie Julia? Warum sieht keines so aus wie ich? Ich weiss schon, warum. Weil du mich nicht einmal anschaust. Warum hast du nicht diese herausgeputzte Ziege geheiratet, wenn du sie so liebst?», beklagte sie sich.
In solchen Momenten wandte Ueli die Taktik an, die er vom Grossvater gelernt hatte: Schweigen. Wenn die Grossmutter Vorwürfe hageln liess, drehte er ihr den Rücken zu und tat so, als fühle er sich nicht angesprochen – was die Grossmutter natürlich noch mehr aus dem Häuschen brachte.
Der Tag der Hochzeit kam schnell. Als Ueli Kurt und Rösli an einem Sonntag des Jahres 1842 in der Dorfkirche heirateten, waren beide erst sechzehn. Zunächst hielt er die Ehe für eines ihrer früheren Kinderspiele. Es war erst wenige Jahre her, seit sie miteinander «Vater, Mutter, Kind» gespielt hatten.
Von der Hochzeitsfeier blieb ihm einzig in Erinnerung, dass Pfarrer Johannes ihn als sehr guten Schreiner gelobt und mehrfach betont hatte, die prächtige Kirchentür sei der Würde des Orts völlig angemessen. Danach wurde die Hochzeit im Gasthaus Krone gefeiert, der Dorfwirtschaft. Ueli musste wohl dem Wein zu sehr zugesprochen haben, denn anschliessend schlief er drei Tage und Nächte wie ein Toter und konnte sich später an nichts mehr erinnern.
Die zweite Woche ihrer Ehe fiel zufällig in die Zeit des Alpauftriebs. Oder vielleicht war das von den Eltern so eingefädelt worden. Wenn der Schnee auf der Schwägalp geschmolzen war, trieb man das Vieh hinauf und lebte drei bis vier Monate in einer Hütte auf der Alp. In Urnäsch brach grosse Hektik aus. Die Kuhglocken wurden hervorgeholt, geputzt und poliert, bevor man sie dem Vieh um den Hals hängte, und die Dorfleute zogen ihre traditionelle Tracht an, um die Alpfahrt würdig zu begehen. An den Hälsen der schönsten und gepflegtesten Kühe baumelten die Schellen an farbig und mit Messingbeschlägen verzierten Lederriemen. Die Männer trugen zu ihren gelben Lederhosen weisse Kniestrümpfe und weisse Hemden unter roten Westen, die mit ihren von Hand gestickten Verzierungen und den grossen silbernen Knöpfen ins Auge stachen. Die Frauen trugen ihre Trachten, die ebenfalls reichlich mit Stickereien verziert waren. Lachend und scherzend zogen die Menschen auf dem gewundenen Pfad zur Alp, sangen Volkslieder, jodelten und tranken Schnaps. Die Sennen trieben das Vieh mit langen Stecken an und trugen das Milchgeschirr und die Gerätschaften zur Käseherstellung mit.
Читать дальше