Abdullah Dur - Der Pascha aus Urnäsch

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Eine abenteuerliche Reise ans Schwarze Meer
Ueli Kurt, ein junger, begabter Schreiner, lebt Mitte des 19. Jahrhunderts in Urnäsch. Seine Schnitzereien an der neuen Kirchentür machen ihn weit über das Ausserrhoder Dorf hinaus bekannt. Als talentierter Handwerker wird er nach Frankreich vermittelt, wo es beim Unterhalt von Schloss Chambord im Loiretal viel zu tun gibt. Er nimmt Abschied von seinem behinderten Kind und seiner Frau, die er nie geliebt hat, und hofft, der Armut und Perspektivenlosigkeit der Heimat entfliehen zu können. Eine abenteuerliche Reise beginnt, die ihn bis ins Osmanische Reich führt, wo sich sein Schicksal zum Guten wendet.

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Abdullah Dur Der Pascha aus Urnäsch

Abdullah Dur

Der Pascha aus Urnäsch

Aus dem Türkischen von Eva Lacour und Wolfgang Riemann

orte Verlag

Unterstützt durch:

Jakob und Rosmarie Frischknecht-Stiftung, Urnäsch

Kulturförderung des Kantons St. Gallen

Kulturförderung Appenzell Ausserrhoden

Stadt St. Gallen

Ortsbürgergemeinde St. Gallen

© 2019 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger

und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbilder: istock, belterz und shutterstock, Ake13bk

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

E-Book-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de

ISBN Buch 978-3-85830-253-3

ISBN eBook 978-3-85830-258-8

www.orteverlag.ch

Ueli Kurt aus Urnäsch

In den Wintermonaten lag in Urnäsch, einem kleinen Dorf in der Ostschweiz am Fuss des Säntis, alles unter einer dicken Schneedecke begraben. Mitte des 19. Jahrhunderts floss das Leben ohnehin etwas gemächlicher dahin als heute, doch in der kalten Jahreszeit versank das Dorf noch mehr in Ruhe und Verschlafenheit. Die Frauen widmeten sich der Handarbeit, strickten und spannen Wolle, die sie im Sommer gewaschen und gekämmt hatten, und wenn den Männern neben ihren ausgiebigen Plaudereien im Wirtshaus noch unausgefüllte Stunden blieben, gingen sie auf die Jagd oder tauschten an Haus und Stallungen Bretter aus, die es nötig hatten. Endlich hatte man die Musse, durchgesessene Polster und abgewetzte Kissen auszubessern und zerrissene Kleidung zu flicken, damit man sie zukünftig wieder tragen konnte. Die Tiere im Stall wurden mit dem in den Scheuern aufgetürmten Heu gefüttert und warteten geduldig auf die Schneeschmelze.

Es war auch die Jahreszeit, in der die Männer ihre Kostüme und Masken für das Silvesterklausen richteten, ein traditionelles Fest, das man jeweils am 13. Januar beging. Diese Kostüme und Masken wurden hauptsächlich aus Dingen gefertigt, die man im Wald fand, von Baumrinde über Tannenzapfen bis hin zu dürren Halmen, Moos und Flechten. Man wetteiferte darum, das beste, das prächtigste Kostüm herzustellen und liess dabei seiner Fantasie freien Lauf. Mit den Masken verjagte man die bösen Geister – so erklärten es die Alten – oder man nutzte die Gunst der Stunde, um jemandem unerkannt seine Liebe zu gestehen oder umgekehrt seine Abneigung ins Gesicht zu schleudern oder Dinge zu sagen, die einem sonst die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten.

Ein guter Teil der Männer versammelte sich regelmässig um den Ofen der Dorfwirtschaft, um über alles und jeden zu reden. In ihren Gesichtern las man die Zufriedenheit mit ihrem Leben. Ein freundlicher Zug lag ihnen um den Mund, mochte es in manchen Haushalten auch am Mehl für die Suppe fehlen. Die meisten hatten kein Geld in der Tasche, um ihre Zeche zu bezahlen, doch der Wirt Jörg Müller zog einfach sein dickes, zerknittertes Heft hervor und notierte die Schuld. Während er das tat, pflegte er dem Gast tief in die Augen zu blicken und zu murmeln: «Oh du lieber Jesus, warum kommen Leute ohne Grips und Geld ausgerechnet in mein Gasthaus!» Man wusste nicht recht, ob er sich mit diesem Spruch über seine Gäste lustig machen oder zu Gott klagen wollte. Hatte einer seinen Kreditrahmen wirklich überschritten, ermahnte er denjenigen höflich und riet ihm, gegen den Durst besser Schnee zu schlecken. In solchen Momenten wandte sich einer der Dorfbewohner an den zahlungsunfähigen Gast und meinte, wenn er keinen Geschmack an Schnee fände, solle er eben Jörg Müller den Hintern ablecken, was regelmässig lautes Lachen und Grölen hervorrief. Trotz alledem fand sich immer jemand, der dem Betroffenen ein Gläschen spendierte.

Am stillsten war es in der Wirtschaft, wenn einer, der lesen und schreiben konnte, den anderen die Appenzeller Zeitung vom Anfang bis zum Ende laut vorlas. Der Vorleser trug den gesamten Inhalt der Zeitung vor, ohne dessen müde zu werden, und die übrigen Gäste lauschten ihm aufmerksam wie dem Pfarrer.

In den Wintermonaten rauchten alle Schornsteine, und der Geruch nach Holzfeuer erfüllte das ganze Dorf. Die Kinder versammelten sich um die knisternden Tannenscheite, um den Geschichten der Ältesten zu lauschen und auf eine lange, geheimnisvolle Reise zu gehen. Diese Geschichten begleiteten sie ein Leben lang, und wenn sie selbst alt wurden, gaben sie die Erzählungen an die nächste junge Generation weiter.

Ueli Kurt hatte diese Nacht sehr schlecht geschlafen. Im Traum hatte er sogar gemerkt, dass er schlief. Es waren so schreckliche Träume gewesen, dass er nicht wusste, ob er besser weiterschlafen oder aufwachen solle, um sie abzuschütteln. Er wurde von Ungeheuern verfolgt, kletterte andauernd auf die höchsten Gipfel, um ihnen zu entkommen, sprang dann ins Leere und begann zu fliegen, um seine Verfolger abzuhängen. Bisweilen verlor er das Gleichgewicht und drohte abzustürzen, wedelte dann wie ein Vogel mit den Armen und flog noch höher hinauf. Wenn er sich umdrehte und seine Verfolger nicht mehr sah, erfüllte ihn grosse Erleichterung und Stolz. Aber plötzlich tauchten die Ungeheuer wieder auf und zwangen Ueli, in noch grössere Höhen aufzusteigen und schneller zu fliegen. Diese Verfolgungsjagd ging immer so weiter.

Diese Alpträume hatte er seit seiner Hochzeit im Jahr 1842. Hätte er diese Träume schon früher gehabt, hätte er ganz sicher in seinem Tagebuch davon erzählt, das er seit seinem zwölften Lebensjahr führte. In dem Tagebuch ging nichts verloren, im Gegenteil, manches wurde mit der Zeit mehr, erlangte tiefere Bedeutung und nahm eine Gestalt an, die Ueli selbst kaum noch begriff. Sein Tagebuch war sein engster Freund und Gefährte. Die darin festgehaltenen Erinnerungen waren wie ein Lebewesen, das zu ihm sprach und ihm sein Herz ausschüttete.

Als Ueli seiner Frau Rösli von den schrecklichen Alpträumen erzählte, interessierte sie sich vor allem für die Ungeheuer: Wer waren sie, wem glichen sie? Ueli konnte sich nicht entscheiden, ob er die Ungeheuer mit Mensch oder Tier vergleichen oder wie er sie bezeichnen sollte. Ihm kam es so vor, als müsste er sonst lügen.

Als Rösli seine Unentschlossenheit merkte, fing sie sofort an, den Traum zu deuten: «Gott erhöht den Menschen, den er liebt. Dass du in die Höhe fliegst, ist ein Zeichen für den Wert, den Gott dir beimisst. Die dreckigen Ungeheuer, die dich verfolgen, sind deine Sünden. Aber sie erwischen dich nicht, denn du stehst unter Gottes Schutz und bist sein geliebter Knecht. Du musst öfter zu Pfarrer Johannes in die Kirche gehen.»

Die Kommentare des Pfarrers deckten sich praktisch mit denen seiner Frau. War das nicht der Beweis für die Richtigkeit dieser Deutung? Ueli versuchte herauszufinden, welche schmutzigen Sünden ihn in Gestalt von Ungeheuern verfolgten, und überlegte, ob es die Flüche sein konnten, die er ausstiess, wenn Ziegen und Schafe ihm nicht gehorchen wollten.

Doch was ihn an diesem Morgen aus dem Schlaf riss, waren nicht die Alpträume, an deren Auftreten er bereits gewöhnt war, sondern das Weinen seines Töchterchens Maria im Zimmer nebenan. Es war der 13. Januar, und er musste noch im Dunkel der Nacht aufstehen, sein Groscht, den mit Tannenzweigen geschmückten Mantel, anziehen, seine Maske aufsetzen und sich die Schellen über die Schulter hängen, um sich dann mit den Kameraden zu treffen. Es war der Tag des Silvesterklausens. In den frühen Morgenstunden gingen er und seine Freunde in ihren selbstgemachten Groscht von Haus zu Haus und liessen dabei die schweren Schellen erklingen, die sie über der Schulter trugen. Seit seiner Kindheit erwartete er den 13. Januar stets mit grosser Vorfreude. Das ganze Dorf im Morgengrauen mit dem Läuten der Schellen aus den Federn zu holen und bei Geplauder und Scherzen den gereichten Schnaps zu trinken, war ein unvergleichliches Vergnügen.

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