Pfarrer Johannes eröffnete seine lange Ansprache mit den Worten: «Zum ersten Mal erlebe ich, dass jemand in solch einer grossen Trauergemeinde beigesetzt wird. Der Grund dafür ist, dass es in der ganzen Gegend kein Haus gibt, in das der Zimmermann Kurt keinen Nagel geschlagen hätte, und dass der materielle Gewinn für ihn nicht im Vordergrund stand. Das ist die höchste Gnade, die man von Gott empfangen kann. Möge Gott uns allen gnädig sein. Trotz dieses Regenwetters seid ihr aus grosser Ferne zu dieser Trauerfeier gekommen. Gott hat euch mit den Wohltaten des Zimmermanns Kurt beschenkt, und Gottes Lohn ist der höchste Lohn. Möge Er uns allen einen solchen Abschied bescheren.» Da der Pfarrer nun schon einmal einer so grossen Gemeinde gegenüberstand, nutzte er die Gelegenheit für eine sehr, sehr lange Predigt.
Maria war gerade vier, Ueli zwanzig Jahre alt geworden. Zuletzt hatte Ueli zwei Jahre zuvor im kleinen Ort Heiden den Doktor Leuenberger aufgesucht. Dank des Sirups, den der Arzt dem Kind gegeben hatte, waren ihre Atemwegprobleme verschwunden. Lediglich die Schmerzen in ihren verkrüppelten Beinen nahmen von Zeit zu Zeit ein unerträgliches Ausmass an. Die beste Behandlung waren Umschläge aus Maismehl nach dem Rezept von Uelis Grossmutter. Sobald die Schmerzen häufiger auftraten, wurden diese Umschläge gemacht.
Maria war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kräftige, blonde Haar fiel ihr über die blauen Augen und die gerade Nase wie ein Vorhang, der ihr Gesicht verbarg. Trotz ihrer Gehbehinderung konnte sie – dank der Knieschoner, die Doktor Leuenberger ihr gegeben hatte – auf Berge rutschen, Brennholz sammeln, die Kuh melken und ihrer Mutter bei Hausarbeiten aller Art zur Hand gehen. Morgens stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und noch bevor ihre Eltern aus den Federn kamen, beobachtete sie die Umgebung, um später in allen Einzelheiten zu berichten, wer vorbeigegangen war und wessen Kühe oder sonstiges Vieh schon in den Wald getrieben worden war. Am liebsten hätte sie den ganzen Tag im Freien verbracht. Wenn es regnete und sie nicht nach draussen konnte, sass sie vor dem zum Bach gelegenen Küchenfenster und sah stundenlang dem dahinfliessenden Wasser zu. Gab es Hochwasser, schrie sie jedes Mal auf, wenn Baumstämme vorbeitrieben, womit sie ihre Mutter heftig erschreckte. Hinter dem Haarvorhang spielte stets ein heimliches Lächeln um ihren Mund. Sie hatte einen unglaublichen Verstand. Von der Herstellung von Käse über Butter bis hin zum Brotteig erteilte sie ihrer Mutter Lektionen, wie man diese Nahrungsmittel schmackhafter zubereiten konnte. Sie ermahnte die Familie sogar, Scheite nicht senkrecht, sondern waagrecht in den Ofen zu legen, damit sie nicht so schnell herunterbrannten und man Brennholz sparen konnte.
Die Mutter wunderte sich: «Maria, woher weisst du das alles bloss? Von mir kannst du es ja nicht haben, denn ich höre es von dir zum ersten Mal.»
«Vom Grossvater, von der Grossmutter, von den alten Leuten, von allen möglichen Leuten hab ich das halt.»
«Alle diese Leute kenne ich ja nicht einmal! Warum erfahre ich solche Sachen nicht?»
«Was weiss denn ich? Vielleicht fragst du nicht danach. Aber ich will alles wissen, und Gott hilft mir dabei.»
Pfarrer Johannes meinte: «Gott hat dem Kind die Energie fürs Laufen ins Hirn gegeben. Das Mädchen sieht und spürt vielleicht viele Dinge, die wir gar nicht bemerken. Warum hat Gott nicht dich oder mich, sondern sie krank werden lassen? Darüber müssen wir nachdenken. Sie ist eindeutig etwas Besonderes. Und damit ist die Antwort auf unsere Frage auch einfach: Gott liebt dieses Kind ganz besonders. Gott hat sie auserwählt und sie vielleicht für eine heilige Aufgabe erschaffen.»
Diese Worte des Pfarrers machten Maria in den Augen ihrer Eltern zu einem noch wertvolleren Geschöpf.
Rösli und Ueli
Ueli Kurt kannte Rösli, solange er denken konnte, denn sie war die Tochter seines Onkels Karl und im selben Haus geboren. Im Parterre des zweigeschossigen Hauses der Kurts lebten die Grosseltern und Uelis Familie mit ihren sechs Kindern, im Obergeschoss die Familie von Onkel Karl mit acht Kindern. Ueli und Rösli waren wie Geschwister. Gemeinsam lauschten sie in den Wintermonaten stundenlang den Geschichten des Grossvaters, sie zogen sich an den Haaren und rauften sich, sie teilten in ihrem jungen Leben gute wie schlechte Zeiten.
Ueli hatte sein sechzehntes Lebensjahr noch nicht vollendet, da eröffnete ihm eines Tages der Vater: «Diesen Sommer wirst du Rösli heiraten. Ich habe das mit Karl so beschlossen. Rösli ist ein sehr fleissiges Mädchen, da wollen wir, dass sie in der Familie bleibt. Und ihr beide passt gut zusammen. Dass mein Bruder Karl und ich ein- und derselben Meinung sind, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass es mit Gottes Segen so sein soll. Das Haus am Geissenpfad wollen wir bis in einem Jahr fertig haben. Den Innenausbau machst du zusammen mit deinem Grossvater. Wir haben genug Holz dafür gelagert. Nimm die Masse für die Fensterrahmen und fang gleich mit den Vorbereitungen an. Wir gehen bald nach Herisau und besorgen Glasscheiben und Fensterkitt. Natürlich nur, wenn das Geld reicht – wenn wir dieses Jahr die Schafe und Geissen auf der Alp gut füttern, oder besser gesagt, wenn ihr sie gut füttert, denn diesmal gehst du mit Rösli auf die Alp. Deine Mutter kommt später nach und hilft euch, den Käse zu machen. Ich bringe euch dieses Jahr nur mit dem Vieh hinauf und muss gleich wieder hinunter, denn in Jakobsbad wird ein riesiges Kloster gebaut. Das ist für mich eine einmalige Gelegenheit. Der Polier Tobler hat gesagt, die Arbeiten dauern mindestens drei Monate, vielleicht sogar mehr. Im Moment hat ja keiner Geld, aber andernorts geht es den Menschen besser. Vielleicht findest du dort für dich eine Arbeit. Wenn ich dich benachrichtige, kommst du sofort herunter. Und dass du mir auf der Alp nur keine ruhige Kugel schiebst! Du erledigst dort alles, was an Holzarbeiten anfällt. Geh übers Dach und tausch die morschen Bretter aus. Es gibt dort viele Bauern, die einen Zimmermann brauchen können. Wenn du länger als einen halben Tag für sie arbeitest, lass dich dafür bezahlen! Sag, dass du frisch verheiratet bist und das Geld dringend brauchst. Sag ihnen, dass du nicht wie dein Grossvater für Gotteslohn oder auf Anschreiben arbeiten kannst. Wer kein Geld hat, von dem kannst du Käse, Wolle oder Holz verlangen. Aber lasst das Vieh nie aus den Augen! Da oben kann das Wetter von einem Moment zum anderen umschlagen. Wenn alles im Nebel liegt, kannst du nichts sehen und findest die Tiere nicht mehr. Das ist eine willkommene Gelegenheit für Diebe und Wölfe. Ihr müsst ständig Augen und Ohren aufsperren. Du kannst die Schafe nicht selbst scheren, du verdirbst die Wolle. Das soll Joseph Glockner machen. Grüss ihn von mir, dann macht er es. Er hat eine gute Schere und kennt sich damit aus. Die Schurwolle müsst ihr gut waschen und trocknen. Dann soll Rösli sie kämmen, bis Gras und Dreck draussen sind. Schafwolle ist jetzt sehr teuer. In St. Gallen haben sie anscheinend Werkstätten aufgemacht, sie weben Stoff aus der Wolle und nähen alle möglichen Kleider daraus. Der Polier Tobler hat berichtet, dass in den Werkstätten zwanzig, dreissig Leute arbeiten. Den fertigen Stoff verschicken sie bis nach England. Er hat sogar gesagt, dass sie bald noch mehr Weber brauchen werden. Wer weiss, vielleicht findest du mit deinen Geschwistern später dort Arbeit. Die Familie Kurt wird immer grösser, und das Land reicht nicht für alle. Wenn ihr später noch Kinder bekommt, könnt ihr sie nicht ernähren. Auch wenn man ein Handwerk beherrscht, hilft einem das nicht weiter. Ich bekomme oft keinen Lohn für meine Arbeit. Immer, wenn es ans Zahlen geht, sagen die Leute: Ich geb es dir später. Aber die Leute haben weder jetzt noch später Geld. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du dich eine Zeitlang nur mit dem Vieh beschäftigst. Ihr wohnt jetzt erst noch einige Zeit bei uns, dann zieht ihr in das Haus am Geissenpfad.»
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