1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Bis zum traditionellen Silvesterklausen waren es noch drei Tage. Eine Woche vor Neujahr holte man die grossen Schellen oder die kleineren Rollen hervor und polierte sie. An Silvester zogen die Männern in Schuppeln von Hof zu Hof, um den Menschen Glück fürs neue Jahr zu wünschen. Die grossen Hauben und Hüte zusammen mit den Schellen zu tragen, war Schwerarbeit. Auf dem Weg nach Urnäsch hatten die Männer der Familie Kurt beschlossen, dieses Jahr nicht beim Silvesterklausen mitzumachen. Alle vier waren abgekämpft und erschöpft. Inzwischen war auch der Winter hereingebrochen, alles war schneebedeckt, der gewaltige Säntis lag hinter den dicken Schneeflocken verborgen.
Sechs Jahre nach dem Brand, im Jahr 1844, führte der Weg Ueli Kurt noch einmal nach Heiden. Doch diesmal war er kein kleiner Junge, der helfen wollte, sondern der Vater eines kranken Töchterchens, der Hilfe suchte. Maria war noch keine zwei Jahre alt und ständig krank. Ausser den Schmerzen in den Beinen litt sie unter Atemnot. Sie entwickelte sich schlecht. Ihre Beine waren dünn wie Zündhölzer. Ueli band sich das Kind auf den Rücken und zog von Arzt zu Arzt. Sein bisschen Geld gab er Leuten, die dem Mädchen Heilung versprachen. Bekannte hatten ihm geraten, Maria nach Heiden zum Dorfarzt Hans Leuenberger zu bringen, der für seine Behandlungserfolge bei Knochenerkrankungen bekannt war, und Ueli wäre für Maria jederzeit bis ans Ende der Welt gelaufen.
Insgeheim dachte er: Sieh an, das muss Gottes Fügung sein. Es war an einem Freitag in der zweiten Septemberwoche. Ueli lieh sich das Pferd des Nachbarn, band sich Maria auf den Rücken und brach noch vor Sonnenaufgang nach Heiden auf. Wie immer nahm er in einem Säckchen seine geschnitzten Kuhfigürchen mit, denn etwas anderes konnte er dem Arzt als Entlöhnung nicht anbieten.
Als er auf den Dorfplatz von Heiden kam, staunte er über die grösstenteils dicht an dicht aneinander gereihten, prächtigen Häuser. Gerade mal sechs Jahre waren seit dem Brand vergangen, doch keine Spur war mehr davon zu sehen. Vor ihm lag ein nagelneues Dorf. An viele dieser Häuser hatte er selbst Hand angelegt. In ihm stieg die Erinnerung an jene Zeit auf, als er mit dem Grossvater Dachstühle und Fensterrahmen baute, im Heu schlief, als sie miteinander am Dorfbrunnen sassen, um an hartem Brot zu nagen … Mit seinem wuchernden Bart hatte der Grossvater ausgesehen wie ein Waldschrat.
Ueli ging auf dem Dorfplatz umher, um nach einem bekannten Gesicht oder einem Erinnerungsstück zu suchen. Schliesslich setzte er sich auf die Treppe vor der Kirche. Dann fragte er sich zur Praxis von Doktor Leuenberger durch. Ein paar Mal schlug er mit dem eisernen Türklopfer, der einen Fuchskopf darstellte, gegen die darunter angebrachte Eisenplatte. Es dauerte nicht lange, da tauchte ein junges Mädchen auf, dessen langer Rock über den Boden schleifte. Sein erster Satz war: «Bindet das Pferd nicht hier vor der Tür an, sondern da vorne beim Stall. Wer ist der Kranke?»
«Ich bringe mein Töchterchen zur Untersuchung. Sie ist krank.»
«Doktor Leuenberger ist kein Kinderarzt. Ich weiss nicht, ob er das Kind untersucht.»
«Ich komme von weit her, aus Urnäsch. Sieben Stunden waren wir unterwegs! Schickt mich um Himmels willen nicht fort, ohne dass der Doktor mein Mädli untersucht hat. Ich flehe euch an!»
«Schon gut. An eurer Sprache hört man schon, dass ihr von dort hinten kommt. Ich bin ja nicht blöd. Wartet vor der Tür!» Mit dieser frechen Antwort schlug das Mädchen Ueli die Tür vor der Nase zu.
Nur wenig später tauchte der Doktor an der Treppe auf, sein rundes Gesicht war nach oben gerichtet, und auch beide Hände öffnete er zum Himmel, als wolle er sich an Gott wenden. «Mein junger Freund aus Urnäsch! Sei mir willkommen! Ich schicke gleich jemanden, der das Pferd in meinen eigenen Stall bringt», rief er.
Ueli wollte schon einwenden, das Pferd gebe er lieber nicht aus der Hand, denn es sei nicht sein eigenes, er habe nämlich kein Geld für die Behandlung – das war zwar nicht ganz richtig, denn der Grossvater hatte ihm mit der Ermahnung, er könne den weiten Weg doch nicht ohne einen Heller in der Tasche antreten, zwei Gulden zugesteckt, doch die wollte er sich als letzten Trumpf aufsparen – er habe aber kleine Kuhskulpturen im Gepäck, die er dem Arzt für die Behandlung anbieten könne, doch würde dieser sie als Lohn annehmen?
Da kam Leuenberger ihm schon zuvor: «Zu welcher Familie in Urnäsch gehörst du denn, junger Mann?»
«Kurt, zur Familie Kurt», stotterte Ueli.
Die Augen des Doktors fingen an zu leuchten. Vor Aufregung entglitt ihm das Buch, das er sich unter die Achsel geklemmt hatte, es fiel zu Boden, und mit ihm ergoss sich eine Menge Notizzettel über die ganze Treppe. Doch der Arzt bemerkte das Buch und die Notizen entweder gar nicht oder wollte sie nicht bemerken. «Kurt, die Familie Kurt! Komm, lass dich an meine Brust drücken!» Er legte die ausgebreiteten Arme um Ueli. «Sei mir willkommen, mein lieber, junger Freund!»
Bei der stürmischen Umarmung erwachte Maria, die auf dem Rücken des Vaters geschlummert hatte. Als sie das Vollmondgesicht des fremden Mannes so nah vor sich sah, fing sie an zu schreien. Der Arzt griff Maria unter den Schultern und half Ueli dabei, sie sich vom Rücken zu schnüren. Dann nahm er Maria auf den Arm. Das Kind hörte auf zu weinen und blickte ihm staunend ins Gesicht. Die Assistentin des Arztes, eine kleine Frau, sah dem Geschehen verständnislos zu. Als sie sich aus der Starre gelöst hatte, machte sie sich daran, die über die Treppe verstreuten Notizen des Doktors aufzulesen.
Sie gingen zusammen ins Sprechzimmer. Ueli Kurt erzählte kurz seine Lebensgeschichte.
«In ganz Heiden gibt es niemanden, der nicht wüsste, was die Familie Kurt für uns getan hat», erklärte der Arzt. «Mich hat es damals tief beeindruckt, wie du mit deinen zwölf Jahren hier geschuftet hast. Deine Holzskulptürchen sind ausserordentlich schön. Ich nehme dir alle ab und gebe dir zehn Gulden dafür. Zur Behandlung deiner Tochter bleibt ihr drei bis fünf Tage hier bei mir zu Gast. Die Kosten dafür hat die Familie Kurt schon vor Jahren im Voraus bezahlt.» Dann fügte er hinzu: «Und mach dir keine Sorgen, ich lasse deiner Familie Bescheid geben, dass ihr ein paar Tage hier bleibt.»
Dann zog Doktor Leuenberger ein paar Mal an einer Schnur, die im Behandlungsraum von der Decke hing. Oben hörte man eine Glocke läuten, wenig später öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters trat ein. «Frau Bäumli, dieser junge Mann aus Urnäsch ist mit seinem Töchterchen eine Woche unser Gast. Richten Sie ihm das Zimmer oben. Sie haben einen weiten Weg hinter sich und müssen sich vor dem Essen ein wenig ausruhen», wies Leuenberger sie an, bevor er sich wieder Ueli zuwandte: «Nun geh hinauf und ruh dich aus. Ein bisschen später kommt ihr zum Mittagessen ins oberste Geschoss hinauf. Meine Frau Ida wird ohne jeden Zweifel sehr erfreut sein, euch kennenzulernen. Nach dem Essen fange ich mit der Behandlung an. Wir haben ja viel Zeit.»
Frau Bäumli hatte Maria mitgenommen. Ueli ging auf sein Zimmer und liess sich aufs Bett fallen. Kaum lag er da, fühlte er eine bleierne Müdigkeit. Er schlief so fest, dass Frau Bäumli es nicht über sich brachte, ihn zum Essen zu wecken. Als Ueli erwachte, war es schon beinahe Abend. Frau Bäumli tauchte mit einem Berg Kleidung auf.
«Doktor Leuenberger schenkt Ihnen dieses Bündel Kleider. Darin sind auch ausreichend Unterwäsche und Strümpfe. Im Bad habe ich Ihnen Wasser heiss gemacht. Anschliessend erwartet der Herr Doktor Sie zum Nachtessen.»
Nach dem heissen Bad fühlte Ueli sich federleicht. Das Esszimmer war von drei Öllampen und zwei Kerzen auf dem Esstisch hell erleuchtet. Frau Leuenberger begrüsste ihn mit einem herzlichen Lächeln und umarmte ihn, wie ihr Mann das getan hatte: «Herzlich willkommen, junger Urnäscher! Dein Töchterchen ist sehr lieb. Ich habe mich den ganzen Nachmittag mit ihr befasst, sie gewaschen, gefüttert und frisch angezogen. Anfangs hat sie ein paar Mal gefragt, wo der Vater sei, aber dann hat sie dich ganz vergessen. Jetzt schläft sie wie ein Murmeltier.»
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