Am nächsten Morgen ritten Ueli Kurt, der Grossvater, der Vater und der Onkel auf den fünf Rössern, die es im Dorf gab, nach Heiden. Die Besitzer der Pferde hatten sie der Familie Kurt mit auf den Weg gegeben, denn zu Fuss wäre es unmöglich gewesen, das ganze Zimmermanns- und Maurerwerkzeug bis nach Heiden mitzunehmen, und sie schleppten alles mit, was sie an Werkzeug besassen. Einer der Pferdebesitzer begleitete sie, um die Tiere wieder zurückzubringen.
Auch viele andere Urnäscher vergassen ihre eigene Armut. Sie packten alles in Säcke, was sie an Lebensmitteln und Kleidung entbehren konnten und machten sich nach Heiden auf.
Dass Ueli mit seinen zwölf Jahren vom Grossvater mitgenommen und wie ein Erwachsener behandelt wurde, gefiel dem Jungen natürlich sehr und erfüllte ihn mit Stolz. Als sie unterwegs eine Verschnaufpause einlegten, ging Ueli zum Grossvater, um ihn zu fragen: «Was bedeutet es, wenn wir in den Augen unseres Herrgotts gestorben sind?»
Der Grossvater fuhr sich mit der Ellbogenbeuge über die Nase, um den Schweiss abzuwischen. «Von wem hast du dieses leere Gerede?»
«Von dir! Erst gestern hast du gesagt, wenn wir den Heidenern nicht helfen, sterben sie alle, und dann sind wir für unseren Herrgott auch tot. Hast du das etwa vergessen?»
«Das soll ich gesagt haben?»
«Ja, du, und zwar vor der ganzen Familie! Gestern Abend erst, als du uns alle zusammengerufen hast.»
Schnell machte der Grossvater sich auf und ging weiter, als liefe er vor etwas davon. Ueli verstand die Antwort trotzdem. Der alte Mann war keiner, der auf jede Frage eine Antwort parat hatte. Fragen, auf die er keine Antwort wusste oder keine geben wollte, überhörte er einfach oder wich ihnen aus.
Als sie nach Heiden kamen, erstarrten sie. Der Grossvater stammelte: «Um Gottes willen! Was für eine Brandkatastrophe, unglaublich! Ich hatte nicht gedacht, dass es so schlimm wäre.» Er legte Ueli die linke Hand auf die Schulter und deutete mit der rechten auf die Überreste eines Gebäudes. «Das Haus da hat den Steiners gehört. Alles ausser den Grundmauern haben zwei Meister aus Heiden und ich gebaut. Die ganzen Verzierungen an der Fassade habe ich geschnitzt. Du warst damals noch nicht auf der Welt.»
Das Dorf war kohlrabenschwarz. Vor den Mauerresten sassen verzweifelt blickende Menschen, deren Kleidung, Haare und Gesichter ebenso schwarz waren wie ihre verkohlten Häuser. Auf den Wegen war einfacher, kleiner Hausrat aufgestapelt. Die Dorfbewohner hatten alles, was sie vor den Flammen bewahren konnten, weit entfernt von den Brandherden aufgeschichtet.
Alte Leute und Kinder lagen ausgestreckt auf Matratzen, die kreuz und quer auf die Wege geworfen waren. Frauen kochten in grossen Kesseln auf offenem Feuer Graupensuppe und Ribelmais. In manchen Kesseln schmorte das Fleisch der verendeten Tiere und wurde Einheimischen wie von weither kommenden Fremden gereicht. Die Menschen hatten sich auf der Strasse versammelt. In ihren Gesichtern erkannte man die schrecklichen Spuren von düsterer Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Aus vielen Ruinen stieg immer noch pechschwarzer Rauch auf. Alles war abgebrannt ausser einer Handvoll Häuser, die etwas abseits des Dorfs lagen.
Als der älteste Sohn von Albert Sonderegger beim Versuch, Mobiliar zu retten, den Flammen zum Opfer fiel, schrie Pfarrer Hohl in einem fort: «Ins Feuer zu gehen bedeutet, sich gegen Gott aufzulehnen, es bedeutet, ihn zu missachten! Das ist eine unverzeihliche Sünde. Wenn ihr überlebt, wird Gott euch wieder Bett und Tisch, Schüsseln und Geschirr bescheren. Aber dazu müsst ihr überleben. Gott, der Allmächtige, gibt euch alles, was ihr braucht, wenn ihr euch nur ehrlich darum bemüht. Geht nicht ins Feuer! Euer Leben ist doch wertvoller als ein hölzerner Milchtopf! Lehnt euch nicht gegen Gott auf!»
Ein Heidener reichte den vier Ankömmlingen Wasser aus einem Tonkrug. «Seht ihr, genau hundertfünfzig Häuser sind abgebrannt. Nur sieben Häuser konnten erhalten werden. Dafür danken wir Gott. Alles geschieht nach seinem Willen.»
Genau in diesem Moment stieg Pfarrer Hohl auf eine Erhöhung auf dem Dorfplatz vor der halb abgebrannten Kirche, um eine kurze Rede zu halten: «Euch allen gilt mein Mitgefühl. Dass ich heute diese Ansprache vor einer halb verbrannten Kirche halte, ist vielleicht eine Ehre, die mir und euch von Gott zuteil wird, eine Ehre nicht nur für uns Heidler, sondern auch für all die Menschen, die uns in diesem Moment beistehen. Mit dem Brand wurden uns nicht nur unsere Häuser, sondern auch unsere Erinnerungen genommen. Manchen unter uns war es noch nicht einmal beschieden, einen einzigen Tag in dem Haus zu leben, das sie unter tausend Mühen errichtet hatten. Vielleicht wollte Gott uns lehren, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, mit denen unser Herr Jesus Christus einst zu kämpfen hatte. Ihr wisst ja, dass er in einem Stall geboren wurde und lange unter schweren Bedingungen lebte. Doch es ist nicht sein Wille, dass andere Vergleichbares durchmachen müssen. Als ich heute sah, wie unsere Brüder aus St. Gallen, Appenzell, Herisau, Urnäsch und vielen anderen Orten herkamen, um uns zu helfen, verstand ich einmal mehr Gottes Grösse. Gott, unser Herr, hat uns durch Seine geliebten Diener die Hand gereicht. Unsere Brüder sind Gottes Werkzeuge. Im Namen Gottes heisse ich euch alle willkommen. Doch nun möchte ich euch nicht weiter aufhalten. Ich möchte allen unseren Helfern unsere Dankbarkeit bezeugen und Ehrerbietung erweisen. Und nun an die Arbeit! Es gibt viel zu tun, und Gott liebt den Arbeitenden.»
Sie machten sich sofort ans Werk. Pferdefuhrwerke brachten unentwegt Baumaterialien, Holz und Steine von ausserhalb, verkohltes Holz und verrusste Reste wurden weggefahren. Man fing mit der Reparatur der am wenigsten beschädigten Häuser an. Angesichts des bevorstehenden Winters wurden zuerst die Dächer wiederhergestellt.
Ueli Kurts Zimmermannslehre begann mit den Aufbauarbeiten an den niedergebrannten Häusern des Dorfs Heiden. Für ihn war es ein grosses Vergnügen, den lieben langen Tag Mass zu nehmen, Bretter zu hobeln und Nägel einzuschlagen. Auf dem Dach war es ihm ein Leichtes, bis an Stellen vorzudringen, an die der Grossvater nur mit Mühe kam. Er riss verbrannte Bretter und Balken herunter, nahm die Masse und rief sie dem Grossvater zu. Dabei spornte es seinen Eifer noch weiter an, wenn er hörte, wie der Grossvater ihn über die Masse lobte und allen rings herum erklärte, dass Ueli mit seinen zwölf Jahren besser arbeite als viele Meister.
Die vier Männer der Familie Kurt schliefen nachts im Heuschober des Bauern, dessen Haus sie gerade wieder aufbauten. Zeitig standen sie auf, stärkten sich mit einem Zmorge aus altbackenem Brot, das sie im Wasser aufweichten, und einem Stück Hartkäse. Dann ging es an die Arbeit. Ueli und sein Grossvater erledigten die Zimmerarbeiten, Vater und Onkel mauerten. Innerhalb eines Monats wurde viele Dachstühle aufgerichtet, Dächer gedeckt und das Innere der Häuser in einen bewohnbaren Zustand gebracht. Die Familie Kurt arbeitete nach dem verheerenden Brand in Heiden am längsten für Gotteslohn. Als sie fortgingen, hatten die Dorfbewohner beim Abschied feuchte Augen. Nach einem Monat liessen die vier Männer Menschen zurück, deren Augen strahlten und nichts mehr von ihrem anfänglichen schwarzen Pessimismus erkennen liessen. Pfarrer Hohl und die Dorfleute gedachten ihrer noch lange in ihren Gebeten. Etwas anderes als ihre Gebete hätte ihnen in Heiden auch niemand schenken können.
Unterwegs lobte der Grossvater den Enkel: «Aus dir wird einmal ein guter Zimmermann. Ich hatte Gelegenheit mehr als genug, mich davon zu überzeugen, dass das Handwerk dir liegt, denn ich habe dir beim Sägen und Nageln zugesehen. Die Arbeit kommt dir aus dem Herzen. Du bist noch sehr jung und hast viel Zeit, um alle Feinheiten des Handwerks zu erlernen. Mach so weiter, aber vergiss nie, dir etwas von Leuten abzuschauen, die es noch besser können. Nur so kannst du dich weiterentwickeln.»
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