Seine ersten Pfeile flogen zu kurz.
Er war nicht der Einzige. Immerhin etwas.
Tiko übte weiter. Jetzt war es ein Nachteil, dass er den Bogen genommen hatte, der schwerer zu spannen war, aber er wusste, sobald er genug Kraft dafür hatte, würde sich dieser Nachteil in einen Vorteil verwandeln.
Dass alle anderen Waffenübungen zusätzlich anfielen, war kein Nachteil. Auch Schwert und Morgenstern kräftigten die Muskeln. Bereits wenige Tage später traf er die Zielscheibe mit jedem Schuss. Jetzt musste er nur noch üben, auch die Mitte zu treffen.
Zakari entging nicht, dass er mit Tiko einen wirklich guten Bogenschützen gewählt hatte. Er ließ sich sogar zu einem Lob herab. „Du bist der Beste in unserer Gruppe. Zumindest Bogenschießen lernen sie in den Bergen.“
Tiko sah Schenomat verstohlen grinsen.
In seiner eigenen Gruppe war es danach für Tiko erträglicher. Die anderen Kadetten behandelten ihn nicht mehr wie den letzten Fußabtreter. Gleichrangig war es deshalb noch lange nicht, aber es tat gut, auch mal zusammen mit der ganzen Gruppe einen freien Abend in einer der Flusskneipen zu verbringen. Er hätte auch in die Hurenhäuser mitgehen können. Aber das hätte bedeutet, das Silber annehmen zu müssen, das Schenomat ihm zweimal angeboten hatte. Von dem, was sein Vater ihm zugestanden hatte, ließen sich jedenfalls keine Huren finanzieren.
Tiko hatte höflich, aber bestimmt abgelehnt. Auch wenn Schenomat ein Freund war, er ließ sich von niemandem Dinge finanzieren, die eigentlich im Budget seines Vaters hätten berücksichtigt werden müssen. Dann lieber verzichten und sich mit einem Krug Bier begnügen.
Schenomat fragte nicht wieder.
*
Bislang hatten die Kadetten gruppenweise gegeneinander im Wettkampf gestanden. Jetzt rief Hauptmann Bodoke sie zu Einzelpaaren vor. Jeden Tag ein anderer Gegner, genau wie bei den Schwertkämpfen. Es war also wieder nur eine Frage der Zeit, bis Tiko gegen Rumaru antreten musste.
Der Kronprinz sah ihn abschätzend an, als sie nebeneinander an die Startlinie traten. Er wusste, wie gut Tiko schießen konnte. Und Tiko kannte Rumarus Fähigkeiten. Die waren nicht weniger gut. Zwei gleich starke Schützen, die sich zudem nicht leiden konnten – das würde ein echter Zweikampf werden.
Dem Gemurmel nach, dass in den Reihen hinter ihnen zu hören war, wussten das auch die anderen. Offenbar wetteten sie sogar, wie Tiko den Gesprächsfetzen entnahm, die er mitkriegte.
Zwei Pfeile zum Einschießen. Tiko gab sich keine Mühe, besonders gut zu schießen. Beide Pfeile trafen den Rand des schwarzen Kreises.
Rumarus Pfeile steckten etwas mehr in der Mitte, aber auch er hatte kein Rot getroffen.
Dann zehn Pfeile Schnellschüsse. Routiniert legte Tiko los. Fünf Pfeile im inneren Schwarz, dann zwei, die Rot trafen, ein weiterer im inneren Schwarz. Der achte flog gut genug, dass Tiko einen Moment innehielt. Das konnte ein zentraler Rottreffer werden! Aber im letzten Moment traf anscheinend eine leichte Windböe den Pfeil, lenkte ihn ab. Er traf nur den schwarzen Ring. Und dadurch, dass Tiko gewartet hatte, war Rumaru schneller. Tiko lag mit seinen Schüssen jetzt einen Pfeil zurück.
Pfeil Nummer neun traf wieder nur den inneren Rand des schwarzen Ringes. Da er ohnehin einen Zeitabzug kriegen würde, machte Tiko sich jetzt die Mühe, etwas genauer zu zielen.
Ja! Der Pfeil flog kerzengerade! Genau auf das Zentrum der Scheibe zu!
Und wurde von einer Windböe abgelenkt, sodass er nur das Schwarze traf.
Tiko stutzte. Es war so gut wie windstill. Die Luft stand seit Tagen, der Gestank der vielen Menschen und Tiere lag wie eine Dunstglocke über der Stadt. Keine Wolke am Himmel, nichts, das für auffrischenden Wind oder gar die ersehnte Abkühlung durch ein Gewitter sorgen würde. Woher also war dieser Wind gekommen?
Ein einzelner plötzlicher, kleiner Windzug aus dem Nichts mochte noch angehen. Ein zweiter? Unwahrscheinlich. Es gab nur eine Erklärung: Zauberei! Und der einzige hier, der zaubern konnte, war Rumaru.
Die Zuschauer schienen nichts gemerkt zu haben, auch Hauptmann Bodoke nicht. Wenn überhaupt, dann hatten sie vermutlich höchstens erwartet, dass Rumaru seinen eigenen Pfeilen nachhelfen würde. Aber das hatte der Kronprinz schlauerweise nicht getan.
Tiko biss sich auf die Lippe. Das würde also kein fairer Wettkampf sein. Na schön. Ändern konnte er das nicht. Dann musste er eben nicht nur gut, sondern sehr gut sein, wenn er noch siegen wollte. Und das wollte er. Diesem verdammten hochnäsigen Prinzen würde er es zeigen!
Der zweite Durchgang. Dieses Mal galt es, alle zehn Pfeile so eng wie möglich auf einen Fleck zu setzen. Sie mussten abwechselnd schießen. Kinderspiel. Jemand, der oft genug seine nächste Mahlzeit selbst schießen musste, lernte, genau zu zielen. Und bei der stehenden Luft hier musste er nichts weiter tun, als bei immer gleichen Bogenhaltung darauf zu achten, dass er auch immer die gleiche Zugkraft einsetzte. Das hieß, falls Rumaru nicht wieder schummelte.
Der Kronprinz schoss gut. Seine Pfeile standen dicht beieinander. Fünf in einem so dichten Pulk, dass sich ihre Federn berührten, zwei weitere keine Fingerbreite entfernt. Wenn Rumaru seine letzten drei Pfeile so schoss, dass sie die beiden Einzelgänger mit der Gruppe verbanden, hatte er die Aufgabe vorbildlich erfüllt.
Tiko allerdings auch. Bei ihm war noch kein Pfeil von der Bahn abgewichen, alle standen sie auf der Zielscheibe eng beieinander.
Der siebte Pfeil. Rumaru gelang es, den ersten seiner beiden Irrläufer in die Gruppe einzubinden.
Tikos Pfeil … wurde wieder von jeder unnatürlichen Windböe erfasst und driftete ab. Fast unmerklich, aber ausreichend, dass er keine Berührung mehr zur Gruppe hatte. Tiko setzte seinen nächsten Pfeil, verbissen, zornig. Fast hätte er es selbst vermasselt. Die Federn des Pfeiles berührten den Irrläufer nur gerade so eben. Unwillig bewegte er seine verkrampfte Schulter.
Rumarus neunter Pfeil. Er berührte den zweiten Irrläufer, aber nicht die Gruppe.
Tiko schoss, noch während Rumarus Pfeil unterwegs war. Der Kronprinz hatte keine Zeit, einzugreifen. Der Pfeil saß, wo er hingehörte, mitten in der Gruppe der anderen acht.
Rumarus Augen wurden schmal, seine Nasenflügel bebten, während er Tiko musterte. Spätestens jetzt musste ihm klar sein, dass Tiko seine Schummelei bemerkt hatte.
„Zu aufgeregt, um zu warten?“
Rumarus Stimme klang belustigt. Seine eisigen Augen jedoch zeigten, dass er alles andere als entspannt war. Tiko war klar, dass er jetzt seine Taktik ändern musste.
Rumarus letzter Pfeil. Elegant landete er genau dort, wo er die beiden Außenseiter mit der Gruppe verbinden konnte. Ohne Nachhilfe durch Zauberei, Tiko hatte genau aufgepasst. Rumaru schoss wirklich gut. Tiko nagte auf seiner Unterlippe. Wenn er jetzt schoss, egal wohin, würde Rumaru seinen Pfeil wieder ablenken. So wie die beiden Male davor, fast unmerklich, zu sehen nur für jemanden, der exakt hinter dem Schützen stand und die Flugbahn genau kontrollieren konnte.
Aber da stand niemand.
Hauptmann Bodoke wartete schräg hinter ihnen. Der konnte es nicht bemerken.
Rumarus Mundwinkel hoben sich spöttisch.
Tikos Gedanken rasten. Was für Optionen blieben ihm? Keine. Außer …
Er legte an, zielte kurz, schoss. Deutlich sichtbar flog der Pfeil schräg zur Seite. Kein Grund für Rumaru, überhaupt noch einzugreifen. Hauptmann Bodoke öffnete bereits den Mund, wollte vermutlich losbrüllen, Tiko wegen absichtlichem Fehlschuss disqualifizieren.
Der Pfeil traf. Er traf genau ins Zentrum der Scheibe, mitten zwischen die Gruppe von 10 Pfeilen, die sich bereits um das Zentrum herum drängten, und blieb gut handtief mit zitternden Endfedern im Stroh stecken.
Es war Rumarus Zielscheibe.
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