Christian Schuldt
Ausweitung
der Kontingenzzone
Beobachtungen der
nächsten Gesellschaft
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Coverabbildung: Elliott Hundley, There Is No More Firmament
(2016, Ausschnitt)
Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-583-2
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Print: ISBN 978-3-86393-124-7
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter
www.europaeischeverlagsanstalt.de
Vorwort
Einleitung
Systemtheorie: Soziale Komplexität verstehen
I.Kontrollverlust
Evolution I: Entropie
Sinnüberschuss: Die unordentliche Gesellschaft
Intransparenz: Lost in Transformation
Nichttrivialität: Die Potenziale der Künstlichen Intelligenz
Komplementarität: Mensch versus plus Maschine
II.Hybridisierung
Evolution II: Morphogenese
Wirtschaft: Mehr als Geld
Politik: Die Illusion von Kontrolle
Liebe: Pragmatische Passion
Kunst: Primat der Polykontexturalität
Religion: Von Konfession zu Meditation
Wissenschaft: Partizipation und Poesie
Massenmedien: Die Selbstbeobachtung der Gesellschaft
Serendipität: Sensibilität für Zufälle
III. Reflexion
Evolution III: Komplexitätskultur
Kybernet(h)ik: Einsicht durch Blindheit
Sinnovation: Die Kraft des Kreativen
Spielkultur: Der Mensch als Möglichkeit
Neo-Humanismus: KI und Kontingenzintelligenz
IV. Zusammenhalt
Evolution IV: Restabilisierung
Generationen: Die Konvergenz von Jung und Alt
Wirtschaft: Unternehmen als Treiber des Wandels
Gemeinwohl: Ein neuer Sektor
Teilhabe: Der Weg zur ökosozialen Wende
Synthese: Von Spaltung zu Gestaltung
Kontingenzvertrauen
Literatur
Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. (Niklas Luhmann)
Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines historischen Umbruchs – das hat spätestens die Coronapandemie unmissverständlich vor Augen geführt. Viele Veränderungsdynamiken, die bereits länger virulent gewesen sind, haben im Kontext der Krise eine ganz neue Kraft und Relevanz erhalten. Sie sind Ausdruck einer umfassenden Zeitenwende, die die Grundfeste unserer Gesellschaftsstrukturen aufbricht und neu zusammenfügt.
Dabei erfindet sich die Gesellschaft neu, indem sie einem neuen Differenzierungsprinzip folgt: dem Prinzip der Vernetzung. Es entsteht eine „nächste Gesellschaft“ (Peter Drucker), mit neuen sozialen, politischen und kulturellen Mustern – und einer neuen Dimension von Kontingenz. Denn in Zeiten steigender Konnektivität und kommunikativer Komplexität gilt zunehmend, dass alles immer auch anders sein könnte. Das Prinzip der Kontingenz prägt sämtliche Lebens- und Arbeitswelten, mit unmittelbaren praktischen Konsequenzen für Organisationen und Staaten sowie für jedes einzelne Individuum.
Nach welchen Gesetzmäßigkeiten vollzieht sich diese Metamorphose hin zu einer nächsten, hypervernetzten und hochgradig kontingenten Gesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, bietet sich die soziologische Systemtheorie in der Prägung Niklas Luhmanns an. Aufgrund ihrer hohen Abstraktionslage ermöglicht die Theorie einen scharfen Blick auf die universellen Mechanismen sozialer Genese – und damit ebenso übergreifende wie tiefenscharfe Erkenntnisse. Zugleich aber erschwert gerade diese theoretische Flughöhe die Zugänglichkeit, schließlich gleicht die Theorieanlage „eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende“, wie Luhmann selbst konstatierte (Luhmann, 1984, 14).
Die vorliegende Publikation will helfen, diese Rezeptionshindernisse zu überwinden – indem sie die konstruktiven Kräfte der abstrakten Theorie in den Mittelpunkt stellt. Das heißt vor allem: die Reflexion des Auch-anders-möglich-Seins, die schöpferische Kraft der Kontingenz. Denn der bewusste Fokus auf konkrete gesellschaftliche Veränderungsdynamiken erschließt zugleich künftige Möglichkeits- und Gestaltungsräume, legt die „possibilistischen“ Potenziale der nüchternen Theorie frei. Gerade inmitten eines historischen Umbruchs, der eine ganze Flut neuer Risiken und Unsicherheiten mit sich bringt, wird diese konstruktive Perspektive immer wichtiger.
Unter der Prämisse der Kontingenz versammelt dieses Buch Themen, die so divers sind wie die nächste Gesellschaft selbst. Das Spektrum reicht von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Innovation bis zu Liebe, Kunst und Religion; von Politik, Geld und Gemeinwohl bis zu Jugend, Alter und Klimawandel. Hervorgegangen sind diese Perspektiven auch aus meiner Tätigkeit als Studienleiter und Autor für das Zukunftsinstitut (siehe die entsprechenden Verweise im Text).
Der rote Faden, der diese Vielfalt bündelt und zugleich eine neue Beobachtungsdimension eröffnet, besteht folglich in einer hybriden Perspektive: in der Kopplung der Systemtheorie an die konkreten Wandlungsdynamiken unserer Zeit. Und in der Frage: Was hält eine Gesellschaft, die heterogen vernetzt und damit auch zunehmend „exkludierend“ ist, überhaupt noch zusammen?
Der Untertitel des Buches ist dabei zugleich eine Reverenz an Niklas Luhmann, genauer: an seine Aufsatzsammlung „Beobachtungen der Moderne“. Im Vorwort schrieb Luhmann: „Der Titel ist bewusst zweideutig gefasst, denn es handelt sich um Beobachtungen der modernen Gesellschaft durch die moderne Gesellschaft.“ (Luhmann 1992, 8). Diese Ambivalenz prägt auch die „Beobachtungen der nächsten Gesellschaft“: Auch sie sind zugleich Selbstbeobachtungen der Netzwerkgesellschaft – die sich noch im Entstehen befindet. Eine systemtheoretische Perspektive, die diese selbstreferenziellen Schleifen miteinkalkuliert, kann dazu beitragen, dieser nächsten Gesellschaft Kontur zu geben.
Christian Schuldt
Hamburg, im Juli 2021
EINLEITUNG
Es gibt nette, hilfsbereite Theorien und solche, die durch das Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen fasziniert sind. Die erstgenannte Variante hat die Tradition für sich, die zweite drängt sich auf, sobald man explizit fragt, wie soziale Ordnung möglich ist. (Niklas Luhmann)
Systemtheorie: Soziale Komplexität verstehen
Um die konstruktiven Erkenntnispotenziale des systemtheoretischen Beobachtungsansatzes zu verdeutlichen, ist es wichtig, zunächst einmal ihre theoretischen Grundzüge zu umreißen. Im Folgenden werden deshalb in aller Kürze die wichtigsten systemtheoretischen Prämissen in Bezug auf gesellschaftliche Wandlungsdynamiken zusammengefasst, mit besonderem Augenmerk auf die vernetzte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
„Inseln geringerer Komplexität“
Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kann so etwas Unwahrscheinliches wie die Gesellschaft überhaupt entstehen? Die Antwort der Systemtheorie lautet: durch verschiedene Formen von Kommunikation, die sich voneinander abgrenzen und eigene Hoheitsgebiete bilden. Oberster Bezugspunkt systemtheoretischen Denkens ist dabei das Thema Komplexität: Soziale Systeme machen die unbestimmbare Komplexität der Welt „behandelbar“, indem sie eigenmächtig Komplexität reduzieren. Die Vermittlung zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der menschlichen Möglichkeit zur Komplexitätsverarbeitung macht soziale Systeme zu „Inseln geringerer Komplexität“ (Luhmann 1970, 116) im diffus-komplexen Weltmeer.
Читать дальше