Michel Houellebecq
Roman
Aus dem Französischen
von Leopold Federmair
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Die französische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Extension du domaine de la lutte im Verlag Maurice Nadeau in Paris.
Ausweitung der Kampfzone erschien erstmals 1999 als Quartbuch im Verlag Klaus Wagenbach.
E-Book-Ausgabe 2015
© 1994 Maurice Nadeau
© 1999, 2006, 2012 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
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ISBN 978 3 8031 4182 8
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2689 4
Inhalt
Erster Teil
»Die Nacht ist fortgeschritten, der Tag nähert sich.
Befreien wir uns also von den Werken der Finsternis, kehren wir zurück zu den Waffen des Lichts.«
Römerbrief, XIII, 12
Am Freitagabend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen. Ungefähr dreißig Leute, alles mittlere Führungskräfte, fünfundzwanzig bis vierzig Jahre alt. Irgendwann begann plötzlich so eine kleine Verrückte sich auszuziehen. Erst hat sie ihr T-Shirt ausgezogen, dann den BH, dann ihren Rock, wobei sie unglaubliche Grimassen schnitt. Ein paar Sekunden lang drehte sie sich, nur mit dem Höschen bekleidet, im Kreis, und als ihr nichts mehr einfiel, begann sie sich wieder anzuziehen. Sie ist sonst ein Mädchen, das mit keinem ins Bett geht. Was das Absurde ihres Auftritts unterstreicht.
Nach meinem vierten Glas Wodka wurde mir ziemlich schlecht, ich musste mich hinlegen und ließ mich auf einen Haufen Kissen hinter dem Sofa fallen. Kurze Zeit später setzten sich zwei Frauen auf dieses Sofa. Keine Schönheiten, im Gegenteil: die beiden dicken Würstchen unserer Abteilung. Sie gehen zusammen essen und lesen Bücher über die Sprachentwicklung bei Kindern und ähnliches Zeug.
Sie fingen gleich an, die Neuigkeiten des Tages durchzugehen, dass nämlich ein Mädchen unserer Abteilung in einem superscharfen Minirock zur Arbeit gekommen war, der ihr gerade eben den Hintern bedeckte.
Und wie fanden sie das? Sie fanden das ausgezeichnet. Ihre Silhouetten zeichneten sich an der Wand über mir ab wie bizarr vergrößerte chinesische Schatten. Ihre Stimmen schienen von hoch oben zu kommen, ein wenig so, als spräche der Heilige Geist. Allerdings ging es mir in diesem Moment wirklich nicht gut.
Fünfzehn Minuten lang reihten sie Plattitüden aneinander: dass sie das Recht hat, sich nach ihrem Geschmack zu kleiden, dass sie deshalb noch lange nicht darauf aus ist, alle Typen zu verführen, dass sie sich bloß in ihrer Haut wohlfühlen will, sich selber gefallen will usw. Die letzten bestürzenden Überreste nach dem Fall des Feminismus. Irgendwann habe ich diese Worte sogar mit lauter Stimme ausgesprochen: »Die letzten bestürzenden Überreste nach dem Fall des Feminismus.« Aber sie haben mich nicht gehört.
Auch mir war dieses Mädchen aufgefallen. Sie war nicht leicht zu übersehen. Sogar der Abteilungsleiter hatte einen Ständer.
Vor dem Ende der Diskussion bin ich eingeschlafen, aber ich hatte einen unangenehmen Traum. Die beiden Würstchen standen Arm in Arm auf dem Gang, der unsere Abteilung durchläuft, sie warfen die Beine in die Luft und sangen aus vollem Hals:
»Wenn ich meinen Arsch verneige,
Will ich nicht verführen!
Wenn ich Schenkelhaare zeige,
Will ich mich vergnügen!«
Das Mädchen mit dem Minirock stand in einer Türöffnung, aber diesmal trug sie ein langes schwarzes Kleid, wirkte mysteriös und zurückhaltend. Sie betrachtete die beiden lächelnd. Auf ihren Schultern saß ein riesiger Papagei, der den Abteilungsleiter darstellte. Von Zeit zu Zeit streichelte sie ihm mit lässiger, aber fachkundiger Hand das Bauchgefieder.
Als ich erwachte, merkte ich, dass ich auf den Teppich gekotzt hatte. Die Party ging dem Ende zu. Ich verbarg das Gekotzte unter einem Haufen Kissen, dann rappelte ich mich hoch und wollte versuchen, nach Hause zu fahren. Da erst fiel mir auf, dass ich meinen Wagenschlüssel verloren hatte.
Jede Menge Marcels
Der übernächste Tag war ein Sonntag. Ich habe das ganze Stadtviertel abgesucht, aber der Wagen blieb unauffindbar. Ich erinnerte mich nicht im Geringsten, wo ich ihn abgestellt hatte; alle Straßen schienen mir gleichermaßen in Frage zu kommen. Die Rue Marcel Sembat, Marcel Dassault ... alles Marcel. Rechteckige Wohnhäuser, in denen die Leute wohnen. Ein heftiges Gefühl von Gleichförmigkeit. Aber wo war mein Wagen?
Während ich zwischen all diesen Marcels umherstreifte, überkam mich immer mehr ein Widerwille gegen die Autos und überhaupt gegen die Dinge dieser Welt. Seit ich ihn gekauft habe, hat mir mein Peugeot 104 nichts als Ärger beschert: verschiedenste, kaum verständliche Reparaturen, kleine Zusammenstöße ... Natürlich geben sich die gegnerischen Fahrer in diesen Fällen locker, sie zücken ihre Formulare für gütliche Einigung und sagen: »Okay, nicht so schlimm«, aber im Grunde werfen sie einem hasserfüllte Blicke zu. Ziemlich widerwärtig ist das.
Außerdem, wenn man die Sache genauer betrachtete, fuhr ich ohnehin mit der Metro zur Arbeit; an den Wochenenden fuhr ich kaum noch ins Grüne, weil mir keine Ziele einfielen; hatte ich Ferien, so entschied ich mich meistens für eine organisierte Reise, manchmal für einen Aufenthalt im Club. »Wozu dieses Auto?«, wiederholte ich mir ungeduldig, als ich in die Rue Emile Landrin bog.
Dennoch kam mir erst beim Einbiegen in die Rue Ferdinand Buisson der Gedanke, Anzeige wegen Diebstahls zu erstatten. Zahllose Autos werden heutzutage gestohlen, vor allem in der nahen Banlieue; die kleine Geschichte würde ohne Weiteres verstanden und geschluckt werden, sowohl von der Versicherungsgesellschaft als auch von meinen Arbeitskollegen. Oder sollte ich ihnen etwa gestehen, dass ich meinen Wagen verloren hatte? Man würde mich unweigerlich für einen Witzbold halten, für nicht ganz normal oder für einen Hanswurst. Nein, das wäre nicht klug. Wenn es um so etwas geht, sind Scherze überhaupt nicht gefragt; bei diesen Dingen kommt man zu seinem guten oder schlechten Ruf, Freundschaften festigen sich oder zerbrechen. Ich kenne das Leben, ich bin es gewohnt. Wenn einer zugibt, dass er seinen Wagen verloren hat, erklärt er praktisch seinen Austritt aus dem Gemeinwesen; Diebstahl klingt entschieden besser.
Später am Abend wurde meine Einsamkeit schmerzlich spürbar. Beschriebene Blätter, leicht befleckt von einem Rest Saupiquet-Thunfisch auf katalanische Art, übersäten den Küchentisch. Es handelte sich um Notizen zu einer Tiererzählung. Die Tiererzählung ist ein literarisches Genre wie andere auch, vielleicht sogar höher zu bewerten; wie dem auch sei, ich schreibe Tiererzählungen. Diese hier trug den Titel »Gespräche zwischen einer Kuh und einem Fohlen«; man könnte sie als ethische Betrachtung bezeichnen; angeregt wurde sie durch einen kurzen, berufsbedingten Aufenthalt im Pays de Léon. Hier ein charakteristischer Ausschnitt: »Betrachten wir zuerst die bretonische Kuh. Das ganze Jahr über denkt sie nur ans Weiden, ihr glänzendes Maul senkt und hebt sich mit beeindruckender Regelmäßigkeit, und kein ängstliches Zittern trübt den pathetischen Blick ihrer hellbraunen Augen. Das alles scheint sehr bedeutend; das alles scheint sogar auf eine tiefe existentielle Einheit zu verweisen, auf eine in mehrerlei Hinsicht beneidenswerte Einheit zwischen ihrem Dasein und ihrem Sein. Doch leider sieht sich der Philosoph in diesem Fall bei einem Fehler ertappt, und seine Schlussfolgerungen, obgleich auf eine tiefe und richtige Intuition sich gründend, werden von schweren Gebrechen befallen, wenn er nicht zuvor daran gedacht hat, sich naturkundliche Kenntnisse anzueignen. Tatsächlich ist das Wesen der bretonischen Kuh ein doppeltes. Zu gewissen Zeiten des Jahres, die der unerbittliche Ablauf des genetischen Programms auf das Genaueste festlegt, vollzieht sich in ihrem Wesen eine erstaunliche Veränderung. Ihr Muhen wird kräftiger und anhaltender, und die harmonische Struktur dieses Muhens verändert sich so sehr, dass es manchmal auf verblüffende Weise an gewisse Klagelaute erinnert, wie sie den Menschenkindern entfahren. Die Bewegungen der Kuh werden schneller, nervöser; mitunter trippelt sie. Sogar ihr Maul, das doch in seiner glänzenden Regelmäßigkeit wie geschaffen schien, um die absolute Dauer einer mineralischen Weisheit widerzuspiegeln, verzieht und verzerrt sich unter der schmerzhaften Wirkung eines übermächtigen Begehrens.
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