Lena Schönwälder - Schockästhetik - Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq: краткое содержание, описание и аннотация

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Die vorliegende Studie erforscht am Beispiel skandalöser Texte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts systematisch literarische Schreibweisen, die beim Rezipienten einen Schockeffekt produzieren. Die untersuchten Werke (der Autoren G. Flaubert, O. Mirbeau, Sade und P. P. Pasolini, A. Nove und N. Ammaniti sowie Michel Houellebecq) werden nicht allein in Hinblick auf ihre formale Beschaffenheit befragt, sondern auch auf etwaige ethische Implikationen. Wirkungsmechanismen literarischer Provokation werden damit aufgezeigt und die Funktion einer Schockästhetik im gesellschaftlichen Diskurs offengelegt.

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Lena Schönwälder

Schockästhetik:

Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Umschlagabbildung Lena Schönwälder 2018 Narr Francke Attempto Verlag - фото 1

Umschlagabbildung: © Lena Schönwälder

2018 Narr Francke Attempto Verlag GmbH Co KG Dischingerweg 5 D72070 - фото 2

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de• info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ePub-ISBN 978-3-8233-0108-0

Meinen Eltern Vorwort Diese Untersuchung entspringt dem Wunsch Literatur und - фото 3

Meinen Eltern

Vorwort

Diese Untersuchung entspringt dem Wunsch, Literatur und ihren Wirkungsweisen näher auf den Grund zu gehen – im Besonderen dann, wenn sie aufreibt, erhitzt, provoziert, kurzum: schockiert. Es schien und scheint mir noch ein großes Faszinosum, dass das geschriebene Wort – eigentlich nicht mehr als Tinte auf Papier – so viel intellektuelle und emotionale Energie freisetzen kann. Ich erinnere mich noch bestens an ein Gespräch mit Prof. Dr. Christine Ott und Prof. Dr. Heidi Marek, in dem sie mir die Romane Michel Houellebecqs empfahlen. Neugierig kam ich dem nach und in der Tat enttäuschte Houelle­becq nicht: Die Lektüre hinterließ mich fragend und irritiert. Davon ausgehend richtete ich meinen Blick auf die Literaturgeschichte, die eine Vielzahl an Texten kennt, die ihrerzeit und in der Folge die Leserschaft zu schockieren vermochten. Es folgte eine Reihe an nicht selten nervenaufreibenden Textlektüren, bei denen mich die Frage nach ihren Mechanismen umtrieb. Dabei zeigte sich, dass es nicht nur die brisanten Themen sind, die die Texte behandeln, sondern auch die Art und Weise, wie diese besprochen werden, die zu ihrer besonderen Wirkmacht beitragen. Die vorliegende Studie ist schließlich eine Ausei­nander­setzung mit der Frage nach der Macht der Literatur – nämlich die Macht zu bewegen und dadurch Denkprozesse anzuregen.

Zu tiefem Dank bin ich Christine Ott verpflichtet, die mir in allen Fragen und Anliegen mit äußerst hilfreichen Ratschlägen und kritischen Anregungen stets zur Seite stand. Eine engagiertere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können: Ich habe mich stets auf das Beste gefordert und gefördert gefühlt. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Roland Spiller, der mir mit großem Interesse an der Fragestellung und wertvollen Anregungen begegnete.

Ein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt meinen Eltern, Anita und Eberhard Schönwälder, und meiner Familie, die mich stets unterstützt haben. Hilfreiche Anregungen habe ich auch im Austausch mit der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Form und Emotion“ erhalten sowie in zahlreichen Gesprächen mit Dr. Francesco Giusti, Zsófia Török und lieben FreundInnen, die mich auf dem Weg begleitet haben.

Besonders danken möchte ich auch dem Forschungszentrum Historische Geisteswis­senschaften, das den Druck dieses Buchs großzügig fördert.

Einleitung

[D]as Choquante , sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, [ist] die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks.

Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie (1795–1797)1

»Choquant« benannte Schlegel im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Form der Literatur, der es vielmehr an »ästhetischer Energie«, denn am Schönen selbst gelegen sei. In abenteuer­lichen, ekelhaften und grässlichen Bildern suche sie um der Interessantheit willen, stets intensivere Reize einzugeben. Noch heute handelt es sich bei der literarischen bzw. künstlerischen Produktion von Schockmomenten um ein probates Mittel der Provokation, die dem Werk bzw. Autor nicht zuletzt eine größere Reichweite im öffentlichen literarisch-künstlerischen Feld verschafft. Ist das »Choquante« zwar bei Schlegel noch unweigerlich seiner eigenen Aufhebung durch Abstumpfung geweiht und damit tendenziell unproduktiv, wird spätestens im 19. Jahrhundert und den Avantgarde-Poetiken des 20. Jahrhunderts der künstlerisch generierte Schock bzw. der als produktiv verstandene Schockzustand im Moment der Kreation zum Distinktionsmerkmal einer innovativen Kunst erhoben. In Baudelaires kunsttheoretischem Konzept von künstlerischer Kreation gestaltet sich der Moment der Inspiration als Gehirnschlag bzw. als Erschütterung der Nerven – eine beson­dere »Chockerfahrung«, wie Walter Benjamin herausarbeitete.2 Auf ähnliche Weise ver­steht später auch André Breton Inspiration als geistigen Kurzschluss bzw. als Moment der plötzlichen Ergriffenheit, den es in der Kunst zu übersetzen und wirkungs­poetisch zu re­pro­du­zieren gilt.3 Seien dies also das revolutionäre Programm der Sur­realisten oder ferner das »théâtre de la cruauté« Antonin Artauds oder auch »Abject Art«: Es handelt sich dabei um Poetiken, die entweder den Moment der künstlerischen Inspiration selbst schon als schockhaften Reizimpuls fassen oder auf die gezielte Produk­tion von sensorisch-emo­tionalen Schockmomenten rekurrieren.

Der Begriff des »Schocks«, per definitionem »eine starke seelische Erschütterung« bzw. »ei­­ne Erschütterung des Nervensystems«, wurde dem Französischen entlehnt.4 »Choc« meint neben seiner primären Bedeutung von »Stoß, Schlag, Erschüt­terung« vor allen Dingen auch »[é]motion violente et inattendue pouvant provoquer de grandes perturbations physiques et psychiques chez l’individu«, bezeichnet also einen Gefühlszustand, der durch das Erleiden einer Aggression herbeigeführt wird; ferner wird »choc« vom Trésor de la langue française gleichsam spezifisch im Kontext der Kunstrezeption als »[é]motion intellectuelle frappant l’individu à la vue d’une œuvre artistique« definiert.5 Der choc wird damit zum Schirmbegriff für einen heftigen, sowohl physischen bzw. psychischen als auch intellektuellen Gemütszustand. Das Verb »schocken« bzw. »schockieren« impliziert gleich­wohl einen moralischen Normbruch: »beleidigen, bestürzt machen, sittlich ent­rüsten«. Inwiefern im Falle des Schocks bei der vom Trésor de la langue française geleisteten Definition tatsächlich von einer »Emotion«, wie sie die Psychologie versteht,6 die Rede sein kann, ist sicherlich insofern problematisch, als er weniger den Basis­emotionen bzw. Primäraffekten wie Interesse/Neugier, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht zugerechnet,7 denn als Zustand einer mit Angst oder Ekel bewerteten Situation psychischer Überlastung verstanden werden kann. Sigmund Freud spricht beispielsweise im Zusammenhang von traumatischen Neurosen von Schock als »ausgiebigen Durchbruch[s] des Reizschutzes«.8 Im Kontext der Ästhetik wiederum wird der Begriff des Schocks mit dem des Schreckens enggeführt.9 Vor allen Dingen Karl Heinz Bohrer entwickelt in Anlehnung an die »Augenblicks«-Denker Nietzsche, Kierkegaard, Max Scheler, Carl Schmitt und Heidegger eine Theorie über die besondere Zeitstruktur moderner Literatur, die sich beispielhaft in der »Konzentration des Zeitbewußtseins auf einen ›gefährlichen Augenblick‹« manifestiere.10 Der künstlerisch produzierte Schrecken bzw. Schock wird zu einem intensiven Moment plötzlicher Entgrenzung und damit zu ei­nem ästhetischen Schlüsselereignis.

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