Christian Frössler - Der Pfau im Honigbaum

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Aus heiterem Himmel werden Ernst und Marcus nach dem Abitur am Rheinstrand halb erleuchtet. Vergeblich versuchen sie in Indien ihren Guru zu finden. Auf dem staubigen Boden der Tatsachen angekommen, funkt es am Ganges zwischen Ernst und Smulia. Sie ist die Tochter eines Gurus und wünscht sich sehnlich selbst auf dem spirituellen Pfad voranschreiten zu dürfen, doch ist für sie die klassische Frauenrolle und die Hochzeit mit einem alten Onkel vorgesehen.
Als Ernst zwei Jahre später überraschend von Smulia auf eine Berghütte in der Schweiz eingeladen wird, erliegt er einem Liebeszauber, schlittert in seine eigene Verlobungsfeier, muss fast sterben, sich von der Brust einer guten Hexe aufpäppeln lassen, alles neu erlernen und geistige Paläste zerstören. Nachdem er Gott und seine Träume beerdigt hat, vereint er sich mit Smulia auf dem Vulkan.
Der Sohn, der dieser Vereinigung entspringt, soll weit weg von ihm, in Indien, als Heiland einer spirituellen Gemeinschaft aufwachsen. Jetzt wird es ernst für Ernst. Verzweifelt versucht er die Familie zu einigen, seinen Sohn aus Indien zu entführen und spielt ihn dabei dem Onkel in die Hände.

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Der Pfau im Honigbaum

Erzählung

Danksagung

Friederike für Ihre Liebe und die Geduld mit mir

Amos, Andi, Anneliese, Elke, Florian, Friederike und Marion fürs Lektorat

Elke Spaarmann für das Titelbild

Vorwort Vorwort Das Leben ist kein Rätsel, das gelöst werden kann, sondern ein Mysterium, das gelebt werden will. Marco Aldinger

I. Teil - Der unnötiger Ernst

Der BRIEF

Erleuchtung

Indien

Der Unfall

Der Pfau

II. Teil - Der heilige Ernst

Das Fest

Das Hexenhaus

Paulnay

Die Zeugung

III. Teil - der nötige Ernst

Die Geburt

Die Entführung

Der Abschied

Anker lichten

Vorwort

Das Leben ist kein Rätsel, das gelöst werden kann,

sondern ein Mysterium, das gelebt werden will.

Marco Aldinger

I. Teil - Der unnötiger Ernst

Der BRIEF

Geschickt fing Ernst die Werbeprospekte auf, die aus dem Briefkasten quollen, dann streifte er sich die Schuhe ab und wollte gerade den Papierstoß in den Müll entsorgen, als ihm ein Brief in die Augen stach. Er ließ sich aufs Bett fallen und riss den Umschlag auf. Er war von Smulia. Beim Lesen ihrer Zeilen entzündete sich Sehnsucht tief in ihm: ihr wacher Blick, ihre warmen Augen, ihr in einen Sari gewickelter Körper, er wollte, er musste sie wiedersehen.

Sich entspannt in dieses unerwartete Glück fallen zu lassen, gelang ihm nicht. Misstrauen begann erst leise zischend, dann schrill pfeifend dem Überdruckventil seines Schnellkochkopfes zu entweichen. Woher rührte diese plötzliche Leidenschaft? Auf der Indienreise vor zwei Jahren hatte er nur angenehme Verliebtheit für sie empfunden. Hatte er damals seine Gefühle unterdrückt, oder erblühte der Liebeszauber wie ein Nachtschattengewächs erst jetzt, auf dem sandigen Boden seiner inneren Öde und im Halbdunkel seines durchschnittlichen Lebens, zu voller Schönheit?

Er stand auf und tänzelte zwischen den, auf dem Boden seines Studentenappartements verteilten, Kleidungsstücken, Pizzakartons, Wasserflaschen und Büchern in die Kochnische, um sich einen Espresso zu machen.

Ungeduldig wartete er auf das Aufsteigen des Dampfes. Die verschmierten Brillengläser seiner schief im Gesicht sitzenden Brille, die langen, leicht gelockten und nicht frisierten Haare und die beliebig kombinierte, schlecht sitzende Kleidung waren Ausdruck seiner Verachtung allen Äußerlichkeiten gegenüber. Eitelkeit hätte er als Verrat an der Bedeutung seines Innenlebens empfunden. Darin vermaß er mit Lust das Universum. In seinem Blickfeld herrschte eine vielfach erhöhte Gravitationskraft, die auch Kleinigkeiten große Bedeutungsschwere verleihen konnte. Hundertfach bereifte Schwertransporte rangierten oft umständlich und ergebnislos in ihm umher. Diesem Hang zum Schwermut hatte er seinen Spitznamen zu verdanken, eigentlich hieß er Karsten.

Der Dampf ließ den Deckel des Espressokochers klappern. Er blickte auf die Lehrbücher, die sich auf dem Schreibtisch stapelten. Nichts hielt ihn hier, er musste diesem Gefühl trauen und zu ihr nach Genf fahren.

Zum Abschließen zu träge, zog er drei Tage später die Wohnungstür hinter sich zu und durchquerte mit gleichmäßigen Schritten die Fußgängerzone von Bonn. Ein Mann mit einer Sammelbüchse und zwei Lamas in den Händen warb Geld für Zirkustiere ein, er hatte kein Kleingeld.

Im IC nach Basel fand er einen Fensterplatz am Tisch im Großraumwaggon und starrte ins Rheintal hinaus. Seine Augen folgten der vorbeifliegenden Landschaft. Das unregelmäßige Schlagen der Fensterscheibe gegen seine Stirn, datack, datackdatack, datack, datackdatack und die schlechte, aus der Heizung aufsteigende Luft wogen ihn in eine sanfte Trance. Sein Gesicht spiegelte sich schemenhaft in der verdreckten Scheibe. Bilder tauchten aus dem Nebel auf, Erinnerungen woben sie zusammen.

Er sah einen auf Kinderfotos ernst blickenden Jungen. Woraus sich die Ernsthaftigkeit speiste, ist rätselhaft. Seine Eltern hatte die Berufslotterie nach Kleve an den unteren linken Niederrhein gewürfelt. Kinder in Latz- und Cordhosen mit Knieflicken und Topfdeckelschnitten wimmelten in Massen durch das Siebzigerjahreneubauviertel. Bolzplatz, Höhlen bauen, Klingelstreich, Bauernhof, Schlittenfahren, Schneeballschlacht, Schlittschuhlaufen, Räuber und Gendarm - die Vorschulzeit am Rand von Feldern und Wäldern war ein sorgenloses Paradies. Aus dem streng katholischen Kindergarten hatten seine Eltern ihn und seine Brüder kurzer Hand rausgenommen, damit sie ihre Kindheit weiter unbeschwert genießen konnten. Außer Zähneputzen gab es kaum Regeln, die eingehalten werden mussten.

In der Grundschule war er ein schwacher Schüler gewesen. Die sadistisch angehauchte Klassenlehrerin hatte versucht durch Demütigungen Scham dafür in ihm zu erzeugen. Wenn seine Hausarbeiten als schlechtes Beispiel durch die Reihen der Mitschüler gekreist waren, hatte er sich jedoch nicht getroffen gefühlt, wahrscheinlich wirkten die Sorglosigkeit der ersten Lebensjahre als Schutzschild dagegen. Verglichen mit dem Spielen draußen, wirkte Schule unecht auf ihn, wie ein Spiel.

Der Nachkriegspädagogik der Grundschullehrerin folgten Gymnasiallehrer im Geist der 68er. Fleiß war allgemein als konservativ und rechts verpönt, man verehrte das Unkonventionell-Genialische. Unvorbereitet, unausgeschlafen, abgefeiert und ungepflegt schleppten sich Lehrer und Schüler im gleichen unwilligen Geist zum Unterricht. Verachtung für die Institution und die Lehrpläne verband sie. Unterrichtsbeiträge wurden nicht am Wissensgehalt gemessen, sondern an ihrer Originalität. Kenntnisreiche Wortmeldungen wurden mit Kommentaren abqualifiziert wie: „Im Wilden Westen wärst du erschossen worden, du weist zu viel.“

Turnschuhe, Tennissocken, eine Levi´s 501 und einen geföhnten mit etwas Gel drapierten Mittelscheitel zu tragen reichte, um als Junge modisch auf der Höhe zu sein. Die Schülerdisco hieß ehrlicherweise “Limit“, die Großraumdisco für die, die schon Geld verdienten und sich nicht mit der Aussicht auf Wegzug aus der Stadt trösten konnten, nannte sich Hoffnung stiftend “World Center“. Die profundeste Erkenntnis einer Jugend in Kleve war: “If you can have fun here, you can have fun everywhere.”

Pershing-2-Raketen, Waldsterben und Tschernobyl gebaren die Friedensbewegungen und die Grünen, die antikapitalistische, antifaschistische 68er-Ideologie begann sich, erschrocken vom Deutschen Herbst, als New Age in eine Selbstverwirklichungsreligion zu verwandeln. Helmut Kohl wurde verlacht und ständig wieder gewählt. Aggressiver Heavy Metal wurde vom Grunge abgelöst, der Ernst und seinen pubertierenden Leidensgenossen den perfekten Soundtrack für grundlose Verzweiflung und schlechte Laune schenkte. Als der Lust an Sorge durch den Fall der Mauer und den Rückgang der Arbeitslosigkeit immer mehr der Nährboden entzogen wurde, blieb den Weltschmerzsuchenden nur noch AIDS, die Dritte Welt und vor allem die Bürde der Selbstverwirklichungspflicht. Techno gönnte im kollektiven Maschinentanz eine Pause hiervon.

In der Abizeitung äußerten die meisten nur vage Vorstellungen von ihren Zukunftsplänen, sicher war, dass niemand sein Leben durch Gewöhnlichkeit verschwenden wollte. Wer einen konkreten Berufswunsch benennen konnte, galt als lebendig begraben, also plante man irgendwas mit Medien.

Mit dem Abi in der Tasche brach Ernst mit seinem Freund Matthias in einem alten Ford Fiesta nach Südfrankreich auf. Sie planten sich durch Frankreich bis nach Perpignan zu mäandern, wo sie einen Sprachkurs gebucht hatten.

Matthias war mit seinen Eltern erst mit acht Jahren aus Polen nach Deutschland gekommen. Für sie war das Leben in West-Deutschland ein wirtschaftlicher Aufstieg, den ihr Sohn fortsetzen konnte und wollte. Die gesättigte Attitude der Generation X seiner Mitschüler konnte und wollte Matthias nicht nachvollziehen. Er ignorierte die Nonchalance der Lehrer, war fleißig und beteiligte sich ernsthaft am Unterricht. Auf ihn wartete ein Studienplatz für Wirtschaft in Cambridge. Der distanziertere Blick eines Zugezogenen ließ ihn erkennen, dass ein Aufbruch aus diesem Deutschland heraus schwierig war.

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