Sophie fühlte sich von ihren Eltern immer geliebt, obwohl sie nie wirklich sagten: »Wie schön, dass es dich in unserem Leben gibt, Sophie.« Oder: »Wir lieben und wertschätzen dich sehr.« Oder:
»Was ist denn deine Ansicht zu dem Thema … ?« Es wurde wenig gesprochen in ihrer Herkunftsfamilie, es wurde nicht nach Ansichten oder Interessen gefragt, eine große Leblosigkeit des Schweigens ummantelte alles, so dass Sophie dachte: »Ich habe eine gute Kindheit. Niemand ist böse zu mir.«
Dass sie ihren Selbstwert nur durch aktive Bestätigung von anderen entwickeln kann, dass sie eine gewisse Autonomie in der Lebensgestaltung nur durch Beziehungserfahrungen mit anderen erwerben kann, das war ihr nicht bekannt. Nie hatte sie dies bewusst vermisst. Die menschlich notwendigen Bedürfnisse nach Gesehen- und Gehört-Werden waren in diesem Ausmaß in ihrer Kindheit abwesend, dass sie das schmerzvolle Vermissen völlig verdrängte. Heute ist ihr nicht bewusst, dass sie diese Bedürfnisse haben könnte.
Markus war der »Sonnyboy« in der Familie. Ein immer lustiger, heiterer Junge, der alle zum Lachen brachte. Enorm leicht kam er durch die Schule, war beliebt, das Studium ging ihm leicht von der Hand. Seine Eltern waren sehr froh um diesen Sohn, denn sie hatten noch einen zweiten Sohn, Martin, mit dem alles so problematisch war. Martin hatte eine schwere Geburt, fand kaum Freunde, tat sich in der Schule aufgrund von Teilleistungsschwächen enorm schwer, brach viele Studiengänge ab, zog sich von der Familie zurück, brach immer wieder den Kontakt ab. Unzählige sorgenvolle Gespräche führten die Eltern über ihren Sohn Martin. Markus saß meistens dabei und hörte der Verzweiflung, der Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit, der entwertenden Wut seiner Eltern zu. Schließlich brachte sich Martin um, was das Herz der Eltern gänzlich in die Verzweiflung und sie in den Alkohol stürzte.
In Markus grub sich das Versprechen tief ein: »Ich mache meinen Eltern keine Sorgen. Ich werde in einem soliden Beruf erfolgreich sein und eine Familie gründen, so dass sie durch mich glücklich werden können.« Als er durch die Trennung von seiner Frau das Familien- und Partnerschafts-Vorhaben scheiterte, riss in Markus das Ausmaß von Versagen auf, das sich durch das schlechte Gewissen seinem Bruder gegenüber, tief unbewusst als Überzeugung einprägte: »Ich bin nicht wirklich besser als mein Bruder, das werde ich irgendwann allen zeigen.«
Susanne hatte Eltern, die den zweiten Weltkrieg als junge Erwachsene erlebt hatten und somit eine ganz andere Wucht an Traumatisierung und Angst in ihren Zellen, ihrem Gehirn und ihrer Seele abbekommen hatten. Ihre Mutter war stets enorm ängstlich, sah hinter jeder Möglichkeit eine Katastrophe aufziehen, die das Leben ihrer Tochter oder das der Familie bedrohen könnte. Ihr Vater war versteinert, sprach wenig, hatte manchmal heftige Wutausbrüche und dominierte die Familie mit einer kurzen, knappen Ansage, die eine Drohung in der Stimme ausdrückte, dass niemand zu widersprechen wagte. Susanne konnte nicht lernen, ihre eigene Meinung zu bilden, sie zu formulieren, sie vor anderen zu vertreten. So konnte sie auch keine eigenen Entscheidungen treffen und sie durchführen, keine eigenen Interessen verfolgen. Sie orientierte sich bis zur Ausbildung an dem, was ihre Eltern als richtig und falsch erachtet hatten. Danach musste sie selbst herausfinden, was richtig war und was falsch — stets im Nacken eine Bedrohung durch das katastrophale und endgültige »Aus«.
Den vier Lebensgeschichten ist gemein, dass es Lebensgeschichten von Im-Stich-Gelassen-Sein, Verlassen-Sein oder Allein-Sein sind. Ich könnte nun die Lebensgeschichten der jeweiligen Eltern erzählen, so dass noch verständlicher wird, warum sie so handelten bzw. nicht handelten, warum sie so waren, wie sie waren. Die Eltern von Lukas z. B. hatten beide wiederum Eltern, die einen Erziehungsstil praktizierten von Härte, Kritik, Leistung. Deswegen entwickelten Lukas Eltern eine Lebensweise von viel, sehr viel arbeiten müssen. Die Eltern von Sophie waren im Krieg als Kinder verschüttet, waren so früh in Lebensbedrohung, dass sie erstarrt waren. Die Eltern von Markus hatten jeweils früh den Vater verloren. Die Mütter mussten mit viel Anstrengung alleine weitermachen. Und von Susanne haben wir schon gelesen. Das erlittene Leid führt unreflektiert dazu, ob wir wollen oder nicht, dass wir anderen oder und uns selbst etwas antun.
Warum ist das so?
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