Wenn ein Mensch einen anderen Menschen mit »du Vollidiot« beschimpft, kann der Beschimpfte Gründe haben, warum er nun brüllend in eine Schimpftirade ausbricht oder gar handgreiflich wird — doch das Recht, seine eigene Würde sowie die Würde des anderen durch Anbrüllen zu verletzen, hat er deshalb mitnichten. In meiner alltäglichen Lebenspraxis bemühe ich mich so zu leben, dass es in meiner Verantwortung als mögliche Beschimpfte liegt, mit Beschimpfungen so umzugehen, dass ich in der menschlichen Größe bleibe. Ich hoffe stets, dass der Beschimpfende zurück zu seiner menschlichen Größe findet. Vielleicht versucht er gar die Ursachen für sein Schimpfen zu bearbeiten, dass er gar nicht erst seine menschliche Größe verliert? Vielleicht versuche ich die Ursachen zu finden, warum ich das ausgelöst habe?
Wir Menschen haben Gründe, warum wir ein derart massiv zerstörerisches Leben führen. Diese Gründe liegen in unserer Lebensgeschichte, in der Geschichte und den Traumata unserer Vorfahren, in den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Systemen und in einigem mehr (Hormone, Ernährungslage, Klima, …) begründet. Aufgrund dieser komplex ineinander wirkenden Zusammenhänge ist es uns nur sehr schwer oder gar nicht möglich, zu grundlegend anderen Lebensweisen zu gelangen.
Ja, wer wir sind und wie wir leben ist die Folge der Lebensweisen unserer Vorfahren, unserer Beziehungserfahrungen mit den Eltern und wichtigen Personen in Kindheit und Jugend, der Zeitgeschichte, der politischen Ordnung, des Klimas, der sozialen Erfahrungen u. v. m.
Wir gewöhnen uns an unsere Lebensweise und glauben gar, ein Anrecht auf einen Standard zu haben, den entweder andere uns als »normal« vorleben oder den wir selbst jahrelang anstreben oder praktizieren.
Aber, was denken Sie?
Haben wir deswegen ein Recht auf einen derart zerstörerischen Lebensstandard? Haben wir ein Recht, diesen Standard vor den Lebewesen zu verteidigen, die die Opfer unseres Wirkens und Lebens sind?
Natürlich nicht — doch wie gehen wir mit der uns innewohnenden zerstörerischen Lebensweise um? Wie werden unsere Enkel und Urenkel auf uns schauen? Und wie gehen sie wiederum mit ihren zerstörerischen Eigenschaften um?
Uns völlig zu verurteilen, andere zu verurteilen, die Gründe und Systeme zu verurteilen hilft uns so wenig, wie auf all die zu schimpfen, die die Lösung von allem noch nicht »begriffen« haben — so unsere Ausdrucksweise, wenn wir voller Angst auf andere schauen.
Ich versuche hier mit Ihnen zusammen einen Weg der menschlich machbaren, konstruktiven Veränderung zu gehen. Es ist ein sehr bescheidener Weg, wegen unserer sehr bescheidenen Möglichkeiten, uns grundlegend zu ändern.
Aufgrund der Komplexität werden wir hier nicht DIE schnelle Lösung finden.
Obwohl es kurz vor zwölf ist, können wir die kleinen Schritte einer nachhaltigen Lösung, einer nachhaltigen Entwicklung zu einem lebensfähig-qualitativen Leben für alle nicht überspringen.
Oder gerade weil es kurz vor zwölf ist, sollten wir beginnen, diese kleinen Schritte zu gehen.
Wenn ein Paar in meine Praxis für Paartherapie kommt, ist es meistens auch kurz vor zwölf. Manchmal weiß ich nicht, ob es noch ein paar Sekunden vor zwölf ist oder schon einige Sekunden oder Minuten nach zwölf.
»Wie viel Zeit haben wir noch, um an all den über Jahrzehnte aufgestauten Problemen sowie am Nicht-Gelernten zu arbeiten?«
Das ist die Frage, die mich in den Paartherapie-Sitzungen häufig begleitet. Oft höre ich von einem oder beiden Partnern: »Ich halte das nicht mehr aus!«
Oder: »So kann es nicht weitergehen, es muss sich ändern — und zwar sofort, denn ich habe mir das Jahre und Jahrzehnte angeschaut.«
Oder: »So oft habe ich ihm/ihr gesagt, dass … — nie hat es was geholfen. Warum sollte es jetzt helfen?«
»So kann es nicht weitergehen, es muss sich ändern — und zwar sofort, denn ich habe mir das Jahre und Jahrzehnte angeschaut.« — Auch das können wir auf unser aller Lebenssituation, als Mensch unter Menschen auf der Erde lebend, übertragen.
Wenn ich als Therapeutin zunächst schaue, was es braucht, damit wir ein paar mehr Minuten, sprich Sitzungen zur Verfügung haben, um ein klein wenig aufzuräumen und zu lernen, wird meistens einer der Partner ungeduldig und meint: »Ja, aber das Problem liegt ja noch viel tiefer! Es reicht überhaupt nicht aus, dass wir nun schauen, dass wir uns nicht mehr so massiv streiten. Ich möchte auch, dass dieses und jenes Thema gesehen und bearbeitet wird. Diese Lösung nun wäre mir zu banal.«
Ja, die ersten Schritte erscheinen oftmals »banal«. Eine unserer erworbenen menschlichen Eigenschaften scheint zu sein, dass wenn etwas leicht machbar erscheint, wir dies dann in seinem Wert weniger schätzen oder gar seinen Wert nicht erkennen.
Der Schritt, den Sie und ich gehen können, wirklich gehen können, hin zu einem mehr lebensfördernden und weniger lebenszerstörenden Leben, ist deswegen der wertvollste Schritt, weil wir ihn wirklich tun können und damit auch nachhaltig tun werden. All die Schritte, die wir benennen, jedoch nicht wirklich nachhaltig ausführen können, sind Schritte, die uns überfordern. Sie lösen Widerstände in uns aus. Wenn wir trotzdem versuchen, sie auszuführen, werden wir sie nur mit einer gewissen aggressiven Disziplin für eine gewisse Zeit praktizieren. Unter dieser aggressiven Disziplin werden dann wir persönlich oder unsere Mitmenschen leiden. Wir werden diese Schritte wieder aufgeben, weil wir nicht wirklich echte Fähigkeiten erlernt haben, sondern uns in eine Überforderung aus Zwang und »Muss« gebracht haben.
Als Erziehungswissenschaftlerin habe ich mich ausführlich mit Lern- und Wachstumsprozessen in allen Lebensphasen und Lernprozessen auseinandergesetzt. Mich fasziniert, was wir Menschen allen Alters fähig sind zu lernen: Abgesehen von den schulischen Angelegenheiten, können wir in jedem Alter lernen zu kommunizieren, Beziehungen zu führen, intim zu berühren, Lebensführung und -organisation — kurz, wir können in jedem Alter lernen und hinzu lernen, wie Leben noch ein wenig gesünder, beziehungsvoller, leichter, lebenswerter, mitmenschlicher für uns möglich werden kann.
Ein erfolgreicher und nachhaltiger Lernprozess lebt von gut aufeinander aufgebauten kleinen Schritten, so dass wir von Freude und Erfolg über unsere machbaren Möglichkeiten heute, zu Freude und Erfolg über unsere machbaren Möglichkeiten morgen gelangen. Ja, es braucht auch das Durchhaltevermögen, das Dranbleiben, die Fähigkeit, Frust und Rückschritte zu verkraften. Doch auf der Basis eines erfolgreichen und freudigen, kleinschrittig machbaren Weges verlangt uns dies meines Erachtens nicht das Äußerste ab, sondern führt uns hin zu unserer Menschlichkeit.
Es ist menschlich, dass wir erst bereit sind, tiefe und grundlegende Angelegenheiten in unserem Leben anzugehen und aufzuräumen, wenn uns nichts anderes mehr übrig bleibt.
Wann bleibt uns nichts anderes übrig?
Wenn in Folge einer Krise uns etwas bevor steht, das eindeutig noch schlimmer ist, als wir es uns unbewusst in unseren düstersten Fantasien vorstellen. Wenn uns z. B. der Verlust von Partnerschaft, Beruf, Wohnort, gar dem Leben vor Augen steht, dann sind wir bereit etwas zu ändern, was wir zuvor nicht ändern konnten.
Nachhaltig grundlegende Änderungen sind für uns Menschen nur angesichts dieser Krisen und Erschütterungen möglich. Sind wir nicht erschüttert oder in einer Krise, werden wir innerhalb unseres scheinbar lebensfähigen Systems versuchen uns so zu verbessern, dass wir uns nicht grundlegend ändern müssen. Wir möchten ohne triftige Gründe das System in seiner Logik, seinen Grundprinzipien nicht verlassen, sondern nur angenehmer gestalten, optimieren, erhalten.
Leide ich zum Beispiel aufgrund der Auswirkungen von Stress und Überarbeitung an Schlafstörungen, zwingen mich die Schlafstörungen und der damit einhergehende Vitalitätsverlust dazu, etwas zu ändern. Bevor ich jedoch die Ursachen von Stress und Überarbeitung hinterfrage, versuche ich die Schlafstörungen »in den Griff« zu bekommen. Hilft mir zum Beispiel ein wundersames, natürliches Kraut als Tee gebraut, eine schöne Meditation, eine wohltuende Körpertherapie-Behandlung, werde ich froh sein, das Symptom behoben zu haben. Ich kann meinem Lebenswandel weiter nachgehen wie bisher. Den Grundprinzipien in meinem Handlungs-System, mich zu überfordern, meine Reserven zu erschöpfen und über meine Grenzen zu gehen, werde ich weiter treu bleiben, auch wenn ich weiß, dass dies »nicht gut für mich ist«.
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