Wir begreifen das Erleben und Verhalten eines Menschen eingebunden in zwei wesentliche Zusammenhänge: zum einen in den Zusammenhang seiner lebensgeschichtlichen, biographischen Entwicklung, und zum anderen in den Zusammenhang der sozialen, zwischenmenschlichen Bezüge und Beziehungen, in denen er lebt.
Entsprechend geht es im vierten Kapitel darum, die wichtigsten Entwicklungsgesichtspunkte aufzuzeigen, die einen Menschen zu dem machen, was er ist. Auch zu dieser Frage gibt es innerhalb der Psychologie sehr unterschiedliche Antworten bzw. Entwicklungstheorien. Wir stellen vier wichtige Ansätze vor und beschäftigen uns dann speziell mit Fragen des Lernens und der Erziehung als einem gesellschaftlich wichtigen Motor der Entwicklung.
Das Erleben und Verhalten von Menschen erklärt sich auch aus den Begegnungen mit anderen Menschen und den wechselseitigen Beeinflussungsprozessen, die in solchen Begegnungen stattfinden. Daher steht im fünften Kapitel das Thema Interaktion und Kommunikation im Mittelpunkt. Die Grunddimensionen sozialer Interaktion werden erläutert und der Einfluss sozialer Interaktion auf unsere Verfasstheit als gesellschaftliches Wesen wird dargestellt.
Soweit sind die Grundlagen für ein psychologisch fundiertes Verständnis des Erlebens und Verhaltens von Menschen gelegt. Auf dieser Grundlage können wir uns dann zwei klassischen Anwendungsfeldern psychologischen Wissens zuwenden – der Psychologischen Diagnostik (sechstes Kapitel) und der Psychologie der Intervention (siebtes Kapitel). Am Ende spitzen wir im achten Kapitel die Zielsetzung dieses Buches auf den speziellen Fall sozialpädagogischer Tätigkeit zu. Dazu werden ausgewählte Arbeitsbereiche dieser Tätigkeit vorgestellt, um an ihnen zu demonstrieren, wie die dargestellten psychologischen Erkenntnisse zu einem genaueren Selbstverständnis sozialpädagogischer Tätigkeit beitragen können.
Wenn wir den Anspruch dieses Lehrbuches bildlich darstellen, dann fällt uns eine Wanderkarte ein, in der Aussichtspunkte eingezeichnet sind. Von ihnen aus kann man einen Landstrich unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten und jeweils neu entdecken. Will der Wanderer jedoch wissen, wie eine Aussicht wirklich ist, dann muss er sich selbst auf den Weg machen. Ein Lehrbuch bietet Aussichtspunkte an. Aber so wie die Karte dem Wanderer nicht den Weg abnimmt, so kann auch dieses Buch es den Lesern und Leserinnen nicht ersparen, in der Praxis selbst herausfinden zu müssen, ob eine bestimmte Sichtweise lohnend ist oder nicht.
2. Psychologie als Wissenschaft
In diesem Kapitel erläutern wir, was es bedeutet, psychologische Erkenntnisse als wissenschaftliche Erkenntnisse zu betrachten.
Zu diesem Zweck berichten wir zunächst, wie Psychologie als Wissenschaft zustande kam und sich entwickelt hat (2.1.). Im Verlauf dieser Geschichte hat sich die Psychologie in Spezialgebiete ausdifferenziert, die wir anschließend vorstellen (2.2.). Den Prozess der Erkenntnis psychologischen Wissens beschreiben wir in allgemeiner Weise (2.3.). Darüber, wie der Wissenschaftscharakter der Psychologie zu bestimmen ist, gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen. Die wichtigsten stellen wir in Abschnitt 2.4.vor. Psychologische Erkenntnis unterscheidet sich vom »gesunden Menschenverstand« u. a. durch das transparente, nachvollziehbare methodische Vorgehen. Zwei Methoden psychologischer Erkenntnisgewinnung stellen wir in Abschnitt 2.5.vor: Experiment und Feldforschung. Durch solche Methoden werden Daten gewonnen, deren Interpretation keineswegs selbstverständlich ist. Innerhalb der Psychologie gibt es eine Reihe von Standards, mit denen Daten interpretiert und verarbeitet werden können, um auf dieser Grundlage zu empirisch gesicherten psychologischen Erkenntnissen kommen zu können (2.6.).
2.1. Psychologie in Europa: Lange Vergangenheit, kurze Geschichte
von Elisabeth Baumgartner
»Die Psychologie hat zwar eine lange Vergangenheit, aber eine kurze Geschichte.« Dieser, von dem Gedächtnisforscher Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909) auf dem vierten Internationalen Kongress für Psychologie in Paris im Jahre 1900 vorgetragene Satz ist wohl der meistzitierte in der Geschichtsschreibung der Psychologie.
Was wollte Ebbinghaus damit zum Ausdruck bringen? – Er beschreibt die Situation der akademischen Psychologie um die Jahrhundertwende, die bestrebt war – besser gesagt, einige ihrer Fachvertreter waren es – sich von der Philosophie, innerhalb derer die Psychologie traditionsgemäß angesiedelt war, zu lösen.
Altertum
Die Philosophie war seit ihren Anfängen im Altertum die Wissenschaft, die sich mit psychologischen Fragen auseinander setzte. Beispielsweise befassten sich schon die vorsokratischen Eleaten ebenso wie Heraklit mit dem Problem des Denkens und seiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Platons (427 – 347 v. Chr.) Dialoge sind, wie wir heute sagen würden, Meisterwerke »psychologischer Gesprächsführung«. Er postulierte, die wahre Wirklichkeit liege in der Welt der Ideen, nicht in der Welt der Sinne und Empfindungen. Diese Hochschätzung des Begrifflichen hatte und hat großen Einfluss auf die abendländische Tradition (vgl. Müller 1971, S. 1).
Aristoteles
Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) ist die Hauptquelle der Psychologie, teilweise bis in die Neuzeit, geblieben. In seiner Schrift »Über die Seele« beschreibt er die Seele (Psyche), die sich als wirkendes Prinzip auf dreierlei Weise äußere:
als Vitalseele (belebend, ernährend);
als Animalseele (empfindend, fühlend, sinnlich begehrend);
als Geistseele (denkend und wollend).
Diese Einteilung hat die Psychologie lange geprägt. Die Beschreibung der »Seelenkräfte«, des »Seelenvermögens« oder der »psychischen Kräfte und Funktionen« entsprechend der Einteilung des Seelenbegriffs beschäftigte die Philosophen aller folgenden Jahrhunderte.
Bezug zur Gegenwart
Auch die heutige wissenschaftliche Psychologie greift auf dieses Modell zurück: die Allgemeine Psychologie mit ihren Klassifikationen des Psychischen in Emotion, Kognition und Motivation (vgl. Pongratz 1967, S. 70); Richtungen der Persönlichkeitspsychologie, die an Schichttheorien orientiert sind; in besonderer Weise aber die Psychoanalyse. Schönpflug (2000, S. 72) meint gar, dass in der Bestimmung des Aristoteles »eine Vielfalt von Domänen [...] für Forschungsprogramme vorweggenommen« sei.
Die abendländische Beschäftigung mit der Psyche führt also, soweit schriftlich nachgewiesen, ins 3. und 4. Jahrhundert v. Chr. zurück. Auch in Asien, in Indien und China existierten Seelenlehren innerhalb des Buddhismus, des Taoismus und des Konfuzianismus, die im Sinne von praktischer Ethik als Wegweiser der Lebensführung dienten. Sie hatten für die abendländische Psychologie in ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung wenig Bedeutung. Als Techniken der Entspannung und Meditation fanden jedoch einige Ansätze Eingang in Therapieformen der Klinischen Psychologie.
Augustinus
Im Zuge der Christianisierung des Abendlandes wird auch die Philosophie »getauft«, ja schließlich als »ancilla theologiae«, als Magd der Theologie aufgefasst. Die altgriechischen Seelenvorstellungen werden im Licht des neuen Glaubens gesehen. Die Seele wird als göttliche Einhauchung verstanden; als nicht dem Körper zugehörig, wohl aber von ihm, seinen Bedürfnissen und Strebungen beeinflusst. Augustinus (354 – 430) beschreibt in seinen »Confessiones«, in »Selbstgespräche« und in »Über die Größe der Seele« die neue Auffassung, die Platonismus und christliche Glaubenslehre zu vereinbaren versucht. Gewissensforschung und Selbstbeschreibung sind seine Methoden. Die seelischen Funktionen sieht er (nach Hehlmann 1982, S. 33) als »wohl verbunden mit den äußeren Sinnen und ihren Organen... Daneben aber stehe der innere Sinn mit den bewahrenden und beziehenden Funktionen des Gedächtnisses, des Denkens, des Wollens. Sie seien spezifisch menschlich. Sie entsprechen der Trinität Gottes und repräsentieren gleichzeitig die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Von der niederen Form der Vernunft, die sich an die Sinneserkenntnisse knüpft, unterscheidet Augustin die höheren Seelenvermögen. Mit ihrer Hilfe könne der Mensch zur Schau der ewigen Ideen aufsteigen. Diese seien jedoch nicht, wie Platon meinte, Erinnerungen aus einem früheren Leben im Ideenreiche. Der Mensch habe sie durch ›göttliche Erleuchtung‹ erhalten, und in ihnen besitze er zugleich das Werkzeug, ständig aus dem Leben im Vergänglichen aufzusteigen, um an der unveränderlichen Wahrheit teilzunehmen.«
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