Ich entspanne mich. Die letzte Kontrolle werde ich machen, wenn wir in der Stadt sind, auf der Busspur. Erst dann weiß man, ob man von einem Auto verfolgt wird. Ich schalte das Aufnahmegerät ein, das ich in der Tasche habe. Ich befestige das kleine Mikrofon am Aufschlag meiner Jacke und fange an, alle Modelle der Autos zu diktieren, die ich vom Fenster aus sehe, dazu die Autonummern. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es extrem schwer ist, Dutzende Modelle und Nummernschilder im Kopf zu behalten. Ich werde die so gesammelten Daten transkribieren und dann beurteilen, ob man mich beschattet hat.
Am Hauptbahnhof steige ich aus. Wie immer wimmelt es von Menschen. Das kann mir nur recht sein. Ich betrete die Halle mit dem monumentalen Gewölbe. Ich gehe langsam und gemächlich. Nach wenigen Schritten stehe ich in der Schlange vor dem Zugschalter. Kurz bevor ich an der Reihe bin, trete ich aus der Schlange heraus und begebe mich zum Taxistand. Ich lasse mich in die Via Brusuglio, Ecke Via Pietro Bembo fahren. An der äußersten Peripherie. Unter anderen Umständen hätte ich mich weit entfernt vom Treffpunkt absetzen lassen. Aber es ist heiß, ich bin müde, und ich will den roten Rollkoffer endlich loswerden. Im Kopf überschlage ich die Entfernung, die mich noch von meinem Ziel trennt. Dreihundertzwanzig Meter zu Fuß. Ich bringe sie zügig hinter mich, den Koffer hinter mir herziehend. Es ist elf Uhr. Um Viertel nach elf muss ich am Treffpunkt sein. Das Ziel ist ein riesiges Gebäude, möglicherweise eine ehemalige Fabrik. Ich habe es schon auf der Schnellstraße Viale Enrico Fermi vom Taxi aus gesehen.
Im Geist rekapituliere ich die Anweisungen. An der Ecke Via Camillo Colombi entdecke ich das weiße Auto, einen Alfasud. Er ist exakt da geparkt, wo man es mir gesagt hat. Das Nummernschild stimmt. Ich nähere mich dem Wagen. Öffne den Kofferraum, der, wie erwartet, unverschlossen ist. Ich hebe den roten Trolley in den Kofferraum, mache ihn wieder zu, und als ich mich umdrehe, bemerke ich einen Mann. Ein junges Gesicht der Politik. Ein Versprechen aus dem Mitte-Rechts-Lager. Seit Monaten sehe ich ihn immer mal wieder im Fernsehen, vor allem in lokalen Sendern. Jetzt weiß ich, dass er Karriere machen wird. Ich gehe weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen. Höre, wie er die Wagentür öffnet. Und wieder schließt. Vor allem aber höre ich das Knirschen der Gangschaltung.
»Er ist ganz schön nervös«, denke ich.
»Wer ist der Politiker?«
Simone Pace lächelt. Seine Stimme ist noch leiser, als er sagt: »Einer, der damals noch ganz am Anfang stand. Und der den Amerikanern offenkundig gefallen hat.«
»Und hat er dann Karriere gemacht?«
»Ja.«
»Wo ist er heute?«
»Er ist immer noch in der Politik«, antwortet Simone Pace und sieht mir in die Augen.
»Sein Name?«
»Sehen Sie, wie ich schon gesagt habe, handelt es sich um verdeckte Operationen. Es existiert kein einziges Dokument, kein einziger Beweis, der belegt, was geschehen ist. Den Namen sage ich Ihnen nicht. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Und zu meiner. Es gibt nicht viele Zeugen. Ich weiß, wer dieser Politiker ist. Er weiß es. Die Amerikaner, die die Operation genehmigt haben, wissen es. Auf der ganzen Welt gibt es drei, vier, höchstens fünf Personen, die den Namen kennen«, bemerkt Simone Pace. Er hat recht.
»Er ist also ein erpressbarer Politiker«, bohre ich nach. Das ist schließlich meine Aufgabe als Journalist.
»Sicher, aber erpressbar nicht durch mich. Das ist nicht mein Stil. Und wie gesagt, es gibt kein einziges Dokument, das belegt, was geschehen ist. Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, aber ein großer Teil der zeitgenössischen Geschichte ist auf Wasser geschrieben. Und zwar mit voller Absicht. Was man uns erzählt, ist nur die offizielle Version. Die Wahrheit lautet oft anders und ist gut versteckt. Die Demokratie oder vielmehr die im Verfall begriffene Demokratie der medialen Welt, in der wir heute leben, braucht die Lüge. Wenn die Wähler die ganze Wahrheit kennen würden, wie könnten dann die Herrschenden den Konsens aufrechterhalten?«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber was war in dem roten Trolley? War er schwer?«
»Schwer? Wenn Sie glauben, es waren Waffen drin, lautet die Antwort Nein«, sagt Simone Pace und muss lachen.
»Nicht unbedingt Waffen, aber …«
»Ich habe den Koffer nicht geöffnet, er war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Aber es war Geld drin. Ich weiß nicht, wie viel, aber dieser Trolley war voller Geld«, verrät mir Simone Pace. »Patrick hat es mir gesagt, als er mir die Operation zugewiesen hat. Es ist Sommer 1989. Die Welt steht vor einem epochalen Umbruch: Fall der Berliner Mauer, Ende des Kalten Kriegs, Kapitulation der Sowjetunion. Und auch in Italien, das aufgrund seiner strategischen Lage am Mittelmeer ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten ist, muss dieser Umbruch unterstützt werden. Nachdem die Amerikaner den Kalten Krieg gewonnen haben, denken sie vielleicht schon darüber nach, der korrupten Politik der Ersten Italienischen Republik ein Ende zu bereiten.«
»Ich verstehe.«
Simone Pace lacht. »Ja, aber diejenigen, die diesen Umbruch finanzieren und steuern, sind dieselben wie zuvor.«
»Wie ist der Koffer zum Flughafen Linate gelangt?«, frage ich.
»Das weiß ich nicht. Ich habe niemanden getroffen. Ich habe den Koffer vom Gepäckband dieses Fluges aus Rom genommen. So lautete die Anweisung.«
Niemand, fährt Simone Pace fort, sagt mir, ob meine Mitarbeit wertgeschätzt wird. Aber sie bezahlen mich weiter, und dafür muss es einen Grund geben. In meiner Dienststelle wird der Arbeitsrhythmus immer hektischer. Inzwischen fotokopiere ich fast alle Dokumente, die dann direkt nach Langley gehen. So stelle ich es mir jedenfalls vor.
Einmal im Monat, manchmal auch öfter, treffe ich mich mit Enrique. Der Venezolaner, der mich in Innsbruck dem Test unterzogen hat, hat Patricks Posten übernommen. Wir treffen uns jedes Mal in einem anderen Land oder einer anderen Stadt. Immer Samstagnachmittag oder Sonntag. Nie in der Schweiz. Eines Tages erklärt mir Enrique, dass aufgrund irgendwelcher Abkommen die Schweiz das einzige Land Europas ist, in dem die CIA nicht operieren kann.
Wenn ich die Instruktionen zu einem Treffpunkt erhalte, hoffe ich jedes Mal, dass er nicht allzu weit entfernt liegt. Denn je länger ich unterwegs bin, desto größer ist das Risiko. Wenn ich das Haus verlasse, bin ich unerreichbar. Nicht einmal zu Diana sage ich, wohin ich gehe. Falls etwas schiefgeht, darf meine Frau, selbst wenn sie unter Druck gesetzt wird, nichts zu erzählen haben. Diana weiß nichts von meinem zweiten Job. Ich schätze ihre Zurückhaltung. Im Lauf der Zeit jedoch merke ich, dass sie eine Erklärung für meine ständige Abwesenheit möchte. Manchmal bin ich nahe daran, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber sie fragt nie nach. Und ich sage nichts. Bis heute bin ich überzeugt, dass ich mich richtig verhalten habe. Im Moment nimmt sie die Situation hin, wie sie ist. Wir haben keine Geldsorgen mehr. Und das hilft, die vielen Unstimmigkeiten zwischen uns zu lösen.
Nur die ersten Male, als ich verschwinde, sagt Diana: »Und wenn jemand nach dir fragt?« Ich erkläre ihr, sie solle sagen, wir hätten uns gestritten und ich sei rausgegangen. Aber es hat nie jemand nach mir gefragt. Wenn ich gezwungen bin, länger als einen Tag von zu Hause fortzubleiben, vermeide ich es anzurufen. Aber in einer Familie kann immer etwas passieren. So wie an jenem Abend, als ich die Tür öffne und niemand da ist. Auf dem Tisch liegt ein Zettel: »Mach dir keine Sorgen. Ich bin mit der Kleinen in der Notaufnahme.«
Ich soll mir keine Sorgen machen? Ich setze mich ins Auto und rase ins Krankenhaus. Ich hätte fast drei Unfälle gebaut und eine Frau auf dem Zebrastreifen überfahren. Die Kleine hat hohes Fieber. Sie erbricht. Nichts Ernstes, gewiss. Beschwerden, wie sie Kleinkinder öfter haben. Ich betrachte sie in ihrem Bettchen auf der Kinderstation des Krankenhauses und zittere und bange, von Schuldgefühlen gepeinigt.
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