Der Zug der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB ist bequem und sauber. Die Wagen sind fast leer. Ich suche mir ein freies Abteil in der Nähe des Ausstiegs. Eine Angewohnheit. So wie ich mich in Lokalen immer mit dem Rücken zur Wand setze, möglichst nahe am Ausgang. Das gibt mir größere Sicherheit. Man hat niemanden im Rücken, und notfalls kann man schnell verschwinden.
Als wir uns Bozen nähern, liegen mindestens zwanzig Zentimeter Schnee auf Straßen und Bäumen. Weil ich so früh aufgestanden bin oder vielleicht auch weil es im Abteil so wohlig warm ist, schlafe ich ein. Ich lasse mich vom Schaukeln des Waggons auf den Schienen wiegen. Es gelingt mir, fast komplett abzuschalten. Ich brauche nicht nachzudenken, nicht jetzt. Ich werde meine Ressourcen, meinen Verstand später einsetzen. Adrenalin schießt durch meinen Körper und verleiht mir ein Gefühl des Wohlbefindens. In diesem Moment bin ich überzeugt, dass jemand, der mir gegenübersäße, ein breites Lächeln sehen würde, von einem Ohr bis zum anderen.
Mich wecken das Kreischen der Bremsen und ein durchdringender Pfiff, der den Grenzübergang Brenner zwischen Italien und Österreich ankündigt. Die Waggontüren werden aufgerissen, ein eiskalter Wind fegt durch den Gang und dringt durch alle Ritzen bis ins Abteil. Ich habe nicht einmal Zeit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, als schon zwei Offiziere der Guardia di Finanza auftauchen, gefolgt von einem österreichischen Zollbeamten. Die drei tragen fast identische grüne Uniformen, und ich kann sie nur an den Emblemen auf ihren Mützen unterscheiden.
Die italienischen Finanzpolizisten öffnen die Schiebetür des Abteils.
»Den Ausweis bitte«, sagt der Erste.
Ich gebe ihm meinen italienischen Pass. Er ist sehr viel anonymer als ein Personalausweis, in dem Adresse und Beruf vermerkt sind.
Ein leichtes Jucken meiner Beine erinnert mich an die Papiere, die ich in meine Socken gesteckt habe. Es sind Fotokopien der Karteikarten zu den Terrorverdächtigen, für die wir uns in Italien interessieren. Ich möchte sie den Amerikanern übergeben. Dieses leichte Jucken warnt mich aber auch, dass ich keine Rechtfertigung habe, falls die Zollbeamten sehen wollen, ob ich etwas in meinen Socken habe. Es ist wirklich eine Dummheit, diese Dokumente über die Grenze zu bringen. Doch der Wunsch, bei Patrick gut dazustehen, und der schiere Nervenkitzel, der mich all die Jahre begleiten wird, haben über meinen gesunden Menschenverstand gesiegt. Und über die elementarsten Sicherheitsregeln.
Ich blicke hinaus auf die verschneite Landschaft. Die langen Güterzüge, die auf ihre Abfertigung warten. Die verschneiten Tannen auf den steilen Bergen oberhalb des Passes. Ich muss zeigen, dass ich nichts zu verbergen habe. Aber das könnte sie erst recht stutzig machen. Nur ein Dummkopf verhält sich so, wenn er etwas zu befürchten hat. Ich bin komplett unvorbereitet. Ich merke, wie sie mich mustern. Und dann fragt mich der Österreicher in seinem harten Akzent auf Italienisch: » Nessun bagaglio? « Kein Gepäck?
Von da, wo sie stehen, können sie es nicht sehen. Es befindet sich in der Ablage oberhalb der Tür, direkt über ihren Köpfen. Ich antworte nicht. Ich stehe auf, und mit dem Blick von jemandem, der zwar körperlich anwesend, in Gedanken aber ganz woanders ist, hole ich meine schwarze Reisetasche herunter und stelle sie auf den Sitz. Ich mache Anstalten, sie zu öffnen. Die beiden italienischen Finanzpolizisten sind schon weitergegangen. Der Österreicher, für dieses Entgegenkommen weniger empfänglich, mustert mich noch ein paar Sekunden. Dann gibt er mir meinen Pass zurück, überzeugt, dass er seine Pflicht getan hat, und seinem Instinkt vertrauend.
» Va bene, buon viaggio «, sagt er und schließt sich seinen Kollegen an.
In Innsbruck frage ich sofort nach dem Tourismusbüro. Man schickt mich in die Salurner Straße gleich gegenüber dem Bahnhof. Nach wenigen Schritten bin ich in der Tirol Tourism Information. Der Raum ist menschenleer, und ich gehe direkt zum Schalter. In tadellosem Deutsch frage ich, wie ich zum Goldenen Tor komme. Die Frau sieht mich verdutzt an.
»Goldenes Tor«, wiederhole ich und artikuliere die Worte überdeutlich.
Sie hat himmelblaue Augen. Blonde, zu einem perfekten Pferdeschwanz zusammengebundene Haare. Ihr magerer, wohlgeformter Körper steckt in einem grünen Tiroler Dirndl mit spitzenbesetzter Bluse und einer großen, an der Taille gebundenen Schleife. Sie nimmt einen Stadtplan aus einem Schubfach, breitet ihn auf der Theke aus und malt mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk einen roten Kringel um den Bahnhof.
»Sie befinden sich hier«, sagt sie. »Gehen Sie geradeaus Richtung Maria-Theresien-Straße. Hausnummer 46 an der Kreuzung Salurner Straße ist das Hotel Goldene Krone. Fünf Minuten zu Fuß. Immer geradeaus.«
»Ja, Verzeihung. Goldene Krone«, sage ich und denke, entweder habe ich einen Fehler gemacht oder Patrick hat schlecht aus dem Deutschen übersetzt. Ich lasse mir einen Stadtplan geben, bedanke mich und mache mich auf den Weg. Ich bin froh, dass ich kein Taxi nehmen muss. Einen Verdächtigen während einer Beschattung dazu zu bringen, in ein Taxi zu steigen, ist eine Methode, die auch von der Terrorabwehr benutzt wird. Zu jener Zeit haben wir in Mailand und Rom zwei Taxis zur Verfügung. Der Taxifahrer ist allerdings einer unserer Leute. Die Zielperson an Bord zu haben ist die beste Lösung. Man braucht ihr nicht zu folgen, vor allem nicht auf der Busspur, wo Zivilfahrzeuge allzu sehr auffallen. Und die Person selbst verrät dir ihr Ziel.
Nicht, dass ich in Innsbruck befürchtet hätte, man würde mich beschatten. Aber die Gewohnheit wird zur Routine. Dann zur Paranoia. Sie ist stärker als die Vernunft. Und deshalb ist es immer besser, zu Fuß zu gehen.
Den Schriftzug »Goldene Krone« auf der grünen Fassade des Hotels sieht man schon von Weitem. Das historische Haus mit den weiß umrahmten Fenstern ist ein Eckgebäude zwischen zwei Straßen. Die Weihnachtsferien und der Jahreswechsel sind vorbei, und ich bekomme problemlos ein Zimmer. Von den sechsunddreißig Zimmern liegt meines im ersten Stock. Ich habe keine Koffer auszupacken. Ich werfe mich angekleidet aufs Bett und warte. Ja, ich brauche nur zu warten.
In dem kahlen Raum frage ich mich, warum sie einen so riskanten Ort wie ein Hotel gewählt haben. Aber ich gebe mir sofort selbst die Antwort: Die Betreiber wissen nichts von uns. Wir sind ganz normale Hotelgäste, die einander nicht kennen. Sogar ich weiß ja nichts von ihnen. Und genau das ist der Punkt: Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie mich kontaktieren werden.
Ich beschließe, nicht rauszugehen, um etwas zu essen, sondern mich mit dem zu begnügen, was ich in der Hotelbar finde. Gesalzene Nüsse. Ein Sandwich. Eine Dose österreichisches Bier. Ich mache den Fernseher nicht an, weil ich jeden Augenblick damit rechne, dass es an der Tür klopft. Ich öffne das Fenster, und der Verkehrslärm flutet ins Zimmer. Erst jetzt fällt mir die perfekte Schalldämmung auf. Vom Fenster aus sieht man einen großen Bogen jenseits der Kreuzung, der auf dem Stadtplan als »Triumphpforte« verzeichnet ist. Ich bleibe stehen, bis ich keine Lust mehr habe, abwechselnd die Triumphpforte und das Telefon anzustarren. Nichts. Niemand meldet sich.
Um achtzehn Uhr beschließe ich, das Hotel zu verlassen. Ich gehe langsam. Bleibe stehen. Kehre um. Ich versuche, auf irgendeine Weise die Aufmerksamkeit dessen zu erregen, der mir vielleicht folgt. Fehlte nur noch, dass ich den Arm hebe und sage: »Huhu, hier bin ich.« Habe ich mich geirrt? Ist das gar nicht der richtige Ort?
Vom Hotel aus biege ich in die Maximilianstraße ein, und gleich nach Hausnummer 25 flüchte ich vor der eisigen Kälte in die Café-Konditorei Valier. Ich bestelle eine heiße Schokolade und frage nach dem »Goldenen Tor«.
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