»Kennst du ein Café, wo wir frühstücken können?«, frage ich ihn. Aber er schlägt unvermittelt einen anderen Ton an. Er schaut auf die Uhr.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir sofort in dein Zimmer gehen? Wir sind spät dran, er wird gleich da sein«, sagt er.
Dann also auch heute kein Frühstück. Außerdem: Spät dran wofür? Wer wird gleich da sein? Die Hotellobby ist voller Menschen im Aufbruch, die mit ihren Koffern Schlange stehen, um zu zahlen. Keiner achtet auf uns, als wir die Treppe hochsteigen. Kaum sind wir in meinem Zimmer, stürzt Enrique zum Fenster, zieht den Vorhang zu und schaltet den Fernseher ein. Die BBC überträgt eine Sondersendung anlässlich der Vereidigung von George Herbert Walker Bush in Washington. Geboren am 12. Juni 1924 in Massachusetts, war er Vorsitzender der Republikanischen Partei, Direktor der CIA und Vizepräsident von Ronald Reagan. Er gehört der Episkopalkirche an und ist nun der einundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Enrique dreht sich zu mir um und hebt den Daumen. »Es wurde Zeit. Für uns brechen jetzt bessere Zeiten an«, sagt er leise. Ich quittiere seine Zufriedenheit mit einem Lächeln. Ich frage nicht, warum, aber er meint wahrscheinlich, dass Bush als ehemaliger CIA-Direktor dem Auslandsgeheimdienst seine Wertschätzung zeigen wird.
Jemand trommelt mit den Fingerknöcheln an die Tür. Enrique öffnet. Es ist ein etwa dreißigjähriger Mann. Groß. Kräftig. Brillenträger. Braune Cordhose und unter der Winterjacke ein Flanellhemd mit roten und gelben Karos. Draußen ist es kalt, aber er hat Schweiß auf der Stirn.
»Sehr erfreut, Logan«, stellt er sich vor. »Man hat mir gesagt, dass du Englisch sprichst. Das ist gut.«
Ich drücke ihm die Hand, die noch verschwitzter ist als seine Stirn. Enrique ist im Bad verschwunden und kommt mit sämtlichen Handtüchern im Arm wieder heraus. Er hat sie befeuchtet und legt sie unten an die Tür und unters Fenster, um jeden Spalt abzudichten, der uns mit der Außenwelt verbindet.
Logan kramt unterdessen in einem riesigen Rucksack, den er aufs Bett gestellt hat. Ich stehe mitten im Zimmer und verfolge die Szene, ohne zu verstehen, was vor sich geht. Endlich beruhigen sich die beiden.
»Er ist von der NSA, der National Security Agency«, erklärt Enrique mit Blick auf Logan. »Er ist aus Washington gekommen, um dir beizubringen, wie du mit uns kommunizieren kannst. Aber vorher muss er etwas anderes machen. Simone, weißt du, was ein Polygraf ist?«
Ich bin so überrumpelt, dass ich gar nicht verstehe, was Enrique sagt. Und ich verneine instinktiv. Die beiden sehen mich verwundert an. Stehe ich jetzt als Dummkopf da?
» La macchina della verìta «, sagt Logan auf Italienisch, aber mit einer falschen Betonung.
»Ach so, natürlich, der Lügendetektor«, wiederhole ich auf Englisch.
»Weißt du, wie er funktioniert?«, fragt Enrique.
»Ja. Das heißt, nein.«
»Ich muss dich fragen, ob du dich diesem Test unterziehen willst«, mischt sich Logan ein.
Was kann ich antworten? Habe ich eine Wahl? Ist das die Prozedur, die man durchlaufen muss, um bei der CIA arbeiten zu dürfen?
»Klar, ich bin einverstanden«, sage ich, als hätten sie mich aufgefordert zu gehen und nie mehr zurückzukommen.
Ich weiß wenig über Lügendetektoren. Mir fällt ein, was der Mossad-Mann in Rom bei einer Sitzung gesagt hat: »Ihr müsst euch bewusst sein, dass alles, was ihr tut, beobachtet wird, sobald ihr euch an den Ort begebt, wo der Test stattfindet. Im Wartesaal und in den Toiletten könnten versteckte Videokameras installiert sein. Und der Raum mit dem Lügendetektor hat ziemlich sicher eine Videokamera oder einen Einwegspiegel. Der Test beginnt, lange bevor ihr an den Apparat angeschlossen werdet, und er endet erst, wenn ihr wieder gegangen seid.«
Ist das tatsächlich so? Die Sache macht mich etwas nervös. Aber mir bleibt keine Zeit zu überlegen. Logan verkabelt mich bereits überall. Auch auf der Stirn. Der Instrukteur von der Nationalen Sicherheitsbehörde gibt sich jetzt nicht mehr freundlich und zugewandt. Er hat etwas Bedrohliches. Als wollte er mir Angst einjagen. Im Gespräch mit Enrique wiederholt er mehrmals, dass sich die Maschine niemals irrt. Vielleicht sagt er das, um mich unter Druck zu setzen. Je größer die Angst, bei einer Lüge ertappt zu werden, desto stärkere körperliche Reaktionen zeigt man normalerweise, wenn man gezwungen ist zu lügen.
»Wenn du willst, kannst du dir die Hände waschen, bevor wir anfangen. Dann wird die Maschine deine Schweißabsonderungen präzise messen«, sagt Logan zu mir. Sofort kommt mir der Gedanke, dass im Bad womöglich eine Videokamera installiert ist, die dokumentiert, dass ich mich für das Händewaschen entschieden habe: der Beweis, dass ich, noch ehe der Test begonnen hat, Angst vor meinen Reaktionen habe.
»Nein, muss nicht sein«, sage ich, »wir können anfangen.«
Enrique ist jetzt hinter mir. Ich sehe ihn nicht. Und um keine emotionale Regung zu zeigen, konzentriere ich mich auf meinen Atem. Ich muss einen Rhythmus von zehn, höchstens fünfzehn Atemzügen pro Minute beibehalten.
»Wie heißt du?«, fragt Enrique.
»Simone.«
»Hast du schon einmal Nudeln gegessen?«
»Ja.«
»Hast du jemandem von dieser Reise erzählt?«
»Nein.«
»Hast du jemals gestohlen?«
»Ja, als Kind.«
»Nein, nein, Simone. Du darfst nur mit Ja oder Nein antworten«, ermahnt mich Logan.
»Hast du jemals mit Drogen gedealt?«
»Nein.«
»Hast du Kinder?«
»Ja.«
»Hast du jemals deine Frau betrogen?«
»Nein.«
»Hast du gestern Abend Alkohol getrunken?«
»Nein«, antworte ich trocken. Ich möchte kein schlechtes Bild von mir abgeben. Deshalb habe ich die beiden letzten Fragen mit Nein beantwortet. Mich jetzt zu korrigieren wäre schlimmer.
»Bist du ein Spion?«, fragt Enrique weiter.
»Nein.«
So geht es zehn Minuten. Nicht länger. Aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich bin so angespannt, wie ich auf dem Bett sitze, dass mir der Rücken wehtut. Vielleicht lassen sie mich ganz bewusst in dieser unbequemen Position verharren. Und dann ist der Test zu Ende.
Logan befreit mich von den Sensoren. Er nimmt etwas zur Hand, das aussieht wie ein PC, und während er das Ergebnis des Tests liest, brummelt er vor sich hin.
»Enrique, komm mit ins Bad. Ich muss mit dir sprechen«, wendet er sich an seinen Kollegen.
Gut. Und was passiert jetzt? Gehört dieses Theater zum Test? Ich bleibe in meiner unbequemen Position auf dem Bett sitzen und erwarte das Urteil. Enrique kommt als Erster aus dem Bad.
»Du bist NDI«, verkündet er.
»NDI?«, frage ich besorgt.
» No Deception Indicated «, erläutert Enrique. Es gibt keine Hinweise auf Täuschung.
Ich entspanne mich.
»Bis auf eine Antwort, die nicht klar ist«, sagt Logan hinter ihm.
»Welche?«, frage ich.
»Kannst du es dir nicht denken?«, stellt Enrique die Gegenfrage. Und ich fange an, etwas vor mich hin zu brabbeln.
»Macht nichts«, beendet Logan das Gespräch und lässt mich, wohl absichtlich, im Ungewissen.
»Jetzt erkläre ich dir, mit welchem System du sicher mit uns kommunizieren kannst. Wir fangen heute an und machen morgen Vormittag weiter«, fügt er hinzu.
Morgen? Ist es wirklich so kompliziert, frage ich mich. Ich möchte nicht gleich sagen, dass ich noch heute Abend zurückfahren muss, wie ich es meiner Frau versprochen habe. Und auch nicht, dass ich übermorgen zur Arbeit muss. Aber einen Tag länger in Innsbruck zu bleiben wäre tatsächlich ein Problem. Es klopft an der Tür. Ich erstarre.
»Wer ist da?«, frage ich. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.
»Enrique.«
Er kommt mit drei belegten Brötchen in einer Papiertüte herein. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er das Zimmer verlassen hat.
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