Der Kellner schaut mich an und korrigiert mich: »Goldenes Dachl.«
Er hat recht. Ich hätte das Goldene Dachl, nicht das Goldene Tor suchen müssen. »Ja«, nickt er und lächelt mich freundlich an. Er erklärt mir, es sei das Wahrzeichen von Innsbruck. Der Habsburger Kaiser Maximilian I. ließ es 1420 auf Wunsch von Herzog Friedrich IV. an der Fassade der Residenz der Tiroler Landesfürsten anbringen. »Der Erker mit dem Dach wurde zwischen 1494 und 1496 gebaut«, sagt er, »anlässlich der Hochzeit Kaiser Maximilians mit Bianca Maria Sforza, der Tochter des Herzogs von Mailand. Das Dach wurde mit feuervergoldeten Kupferschindeln gedeckt. Insgesamt zweitausendsechshundertsiebenundfünfzig«, fügt er hinzu und betont die Ziffern dieser langen Zahl, als würde er jede einzelne Schindel zählen. Er serviert mir die heiße Schokolade.
»1494 lag die Entdeckung Amerikas gerade einmal zwei Jahre zurück«, fährt er fort. Und wegen eines amerikanischen Spions bin ich heute hier, füge ich still für mich hinzu. Der Kellner schaut mich an, ohne meine Gedanken lesen zu können. Mein Fehler ist der Tatsache geschuldet, dass das Goldene Dachl auf Englisch auch Golden Door , Goldenes Tor, genannt wird. Und ich habe es wortwörtlich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
»Herzog-Friedrich-Straße 15«, fügt der Kellner hinzu und schaut auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. »Morgen, der Herr, heute ist es schon zu spät. Das Museum schließt um siebzehn Uhr.«
Ich fluche still in mich hinein. Wie, es schließt um siebzehn Uhr? Habe ich mich mit den Tagen verzählt? Haben sie sich mit dem Geburtsdatum meiner Frau vertan? Habe ich etwas falsch verstanden? Ich versuche, Ruhe zu bewahren. Ja, ich fange an zu lachen wie ein Trottel. Ich denke: Aber hätten sie denn nicht eine Stadt mit weniger Gold aussuchen können? Ich beschließe, zu Hause anzurufen. Ich kehre ins Hotel zurück und rufe von der Lobby aus an. Es ist keine richtige Lobby, nur ein kleiner Aufenthaltsbereich. Die Rezeption befindet sich rechts, gleich nach dem Eingang. Hinter der Theke die Postfächer der Zimmer mit den Schlüsseln und daneben, rechts von den Fächern, die Tür zum Büro mit einem Fenster, das auf Wadenhöhe zum Bürgersteig geht. Gegenüber der Rezeption die steile schmale Treppe mit einem abgewetzten roten Veloursläufer, auf der kaum zwei Personen nebeneinander Platz haben. Links von der Treppe liegt der Korridor, der als Frühstücksraum genutzt wird. Das ist alles. An der Wand am Ende des Korridors ist das große Telefon.
»Ciao. Alles in Ordnung? Hat jemand für mich angerufen?« Meine Frau antwortet mit einem Ja und einem Nein. Und legt auf. Als ich sie gebeten habe, diskret zu sein, meinte ich nicht, dass sie im Telegrammstil sprechen soll. Aber so ist sie eben.
Ich verlasse das Hotel und gehe los. Ich habe kein Ziel, und während ich überlege, was ich machen soll, verliere ich die Orientierung. Ich hebe den Blick. Schaue mich um. Ich bin ganz in der Nähe der Maria-Theresien-Straße 36, fast vor dem Café im Hof. Im Hotel lag ein Flyer mit diesem Namen. Man muss bei Hausnummer 38 den Bogengang eines historischen Gebäudes passieren und betritt einen ruhigen Innenhof. Die cremefarbenen Markisen mit dem Namen des Lokals überwölben die beleuchteten Bögen des Eingangs an der linken Fassade. Es ist zwanzig Uhr. Ich habe seit dem gestrigen Abendessen nichts Richtiges mehr zu mir genommen, und der Duft von Gebäck und frischem Brot weckt meinen Hunger.
Ich trete ein und gehe auf die Kasse am Ende des Ladentischs zu. Stelle mich in die Schlange. Vor mir sind zwei sehr junge Mädchen. Sie reden und lachen. Und vor ihnen ein Mann. Er hat mir den Rücken zugekehrt, ich kann sein Gesicht nicht sehen. Aber er kommt mir irgendwie bekannt vor. Die kurzen, im Nacken rechteckig geschnittenen Haare. Die leicht gerötete Haut, als hätte er sich frisch rasiert. Er trägt einen braunen Anzug, und unter dem Jackenkragen spitzt der Kragen eines babyblauen Hemds hervor. Eine furchtbare Kombination. Ich höre deutlich, wie er mit unverkennbar amerikanischem Akzent auf Deutsch einen Kaffee bestellt. Als er zur Kasse weitergeht, dreht er den Kopf zu den beiden Mädchen hinter sich. Und zu mir. Diese Krawatte würde ich unter tausend anderen wiedererkennen. Für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke. Ich kenne ihn nicht. Wer ist dieser Mann? Und warum trägt er die Krawatte, die ich Patrick geschenkt habe?
Auch ich bestelle einen Kaffee und suche mir rechts von ihm, auf die Theke gestützt, einen Platz. Er dreht sich nicht um, er schaut mich nicht an. Er trinkt seinen Kaffee und geht. Ich bleibe noch ein paar Augenblicke und denke nach. Versuche, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. War das Zufall? Eine banale Koinzidenz? Nein, nichts geschieht zufällig. Ich kann nicht ausgerechnet jetzt meiner Lebensphilosophie abschwören.
Ich verlasse gleichfalls das Café und wende mich nach rechts, um ins Hotel zurückzukehren. Es ist so kalt, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Ich sehe ihn erst, als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt bin. Er kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Ciao, ich bin Enrique. Der Besitzer der Krawatte lässt dich grüßen.«
Ich reiche ihm meine Hand, die schon anfängt zu erfrieren.
»Wir sind zu früh, aber umso besser, nicht wahr?«, sagt Enrique. »Verzeih mein Italienisch. Ich bin Venezolaner.« In Wirklichkeit spricht er ausgezeichnet Italienisch. Wir gehen am Hotel vorbei und biegen in die Maximilianstraße ein. An seinem geröteten Gesicht merke ich, dass auch er anfängt zu frieren. Und fast als würde er meine Gedanken lesen, schlägt er vor, uns wiederzusehen.
»Frühstücken wir doch morgen zusammen«, sagt er.
»Ja, gern. Wo treffen wir uns?«
Er hebt den Kopf und deutet auf die Triumphpforte. »Hier, am Goldenen Tor. Um zehn.«
Ich möchte ihm am liebsten einen Kopfstoß auf die Nase geben. Sie haben den Namen durcheinandergebracht und meinten die Triumphpforte. Aber ich schlucke meinen Ärger hinunter und sage nichts.
»Also dann bis morgen«, verabschiede ich mich. Zwei Schritte, und schon ist er meinen Blicken entschwunden, vom eisigen Nebel verschluckt.
Ich kehre ins Café im Hof zurück. Ich muss etwas essen. Die Wärme des Lokals umfängt mich. Es sieht nicht aus wie ein Café, eher wie eine Wohnung. Alte Gemälde an den Wänden. Ein sechsarmiger Leuchter erhellt den durch einen Bogen geteilten Raum. Ich steuere auf das Tischchen mit zwei Stühlen linker Hand zu, in der Nähe des großen Fensters. Es geht auf den Hof hinaus, wo im Sommer wahrscheinlich Tische und Stühle stehen. Ich entspanne mich und schaue mich um, und mein Blick fällt auf eine junge Frau, die mir den Rücken zudreht. Sie sitzt an dem Tisch direkt am Eingang. Auch sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Wo habe ich sie schon einmal gesehen? Während ich noch überlege, dreht sie sich um. Sie fixiert mich für einen kurzen Moment.
»Haben Sie das Goldene Tor gefunden?«, fragt sie mit einem reizenden Lächeln.
Ja natürlich, es ist die Frau vom Tourismusbüro. Sie trägt die blonden Haare offen. Schwarze Satinhose und weiße Bluse. Ich stehe auf und gehe zu ihr.
»Du bist vom Tourismusbüro?«, frage ich, weil mir nichts anderes einfällt, um ein Gespräch zu beginnen.
Auch sie steht auf. »Ja«, sagt sie. Und breitet die Arme aus, mit den Handflächen nach oben, als wollte sie sagen: Klar, erkennst du mich nicht?
»Bist du … bist du Österreicherin?«, frage ich. Ihre Schönheit bringt mich etwas in Verlegenheit.
»Österreicherin? Sehe ich aus wie eine Österreicherin? Ich bin Italienerin aus Vipiteno, Sterzing. Ich heiße Lena. Sieht aus, als wärest du auch allein hier. Willst du dich zu mir setzen?«
Ich nehme die Einladung gern an, froh, nicht Deutsch sprechen zu müssen.
Die Kellnerin ist gekommen, ihren Bestellblock in der Hand.
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