Während meine Frau den Tisch abräumt, will Patrick wissen, was ich über die blutigen Terroranschläge überall in der Welt denke. Ich fühle mich von dieser Frage geehrt: Jemand – und er ist schließlich nicht irgendwer – möchte meine Meinung hören. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich voll und ganz aufseiten der Amerikaner stehe. Und dass wir, auch wenn wir wollten, nicht mehr tun können. Die Mittel und die zur Verfügung stehenden Gelder reichen nicht aus. Wenn etwas bewirkt wurde, dann nur aufgrund des täglichen Kampfes von Leuten, die das, was sie tun, als Mission begreifen.
Patrick nickt. Er scheint mir sehr genau zuzuhören. Ich habe das Gefühl, einer Prüfung unterzogen zu werden. Ja, einer Prüfung. An einem bestimmten Punkt schenkt er mir sein Vertrauen und enthüllt mir, dass seine Tätigkeit als Konsul nur Tarnung ist: In Wirklichkeit ist er Chef der CIA in Rom. Das Wort CIA benutzt er jedoch kein einziges Mal. Er spricht ganz allgemein von Agency . Ich zeige keine Regung. Ich sage nur: »Ja, ja, hab verstanden.«
Eines Tages treffen wir uns vor dem Castello Sforzesco in Mailand. Aber nur für einen kurzen Moment. Ich habe es eilig, sage ich, ich muss zum Flughafen Linate. Es ist der 12. Januar 1987. Ein Montag.
»Man hat einen Libanesen festgenommen, Baschir Khodr«, erzähle ich ihm. »Er hatte elf Kilo Plastiksprengstoff bei sich, versteckt in den Rahmen zweier Bilder und in vier großen Ostereiern aus Schokolade. Außerdem wurden sechsunddreißig Sprengzünder bei ihm gefunden, die in den Batterien eines Transistorradios versteckt waren.«
Patrick hört zu und meint lächelnd: »Klar, Ostereier im Januar …« Und mit seinem amerikanischen Akzent sagt er, man habe ihn soeben informiert.
Inzwischen sehen wir uns mindestens einmal alle zwei Wochen. Auch wenn wir nur einen Kaffee zusammen trinken. Er hat mich gebeten, zu Hause einen Anrufbeantworter zu installieren. Vor jedem Treffen hinterlässt er mir eine Nachricht, die immer mit demselben Satz beginnt: » Ciao Diana, come stai? « Und mit Ort, Tag und Zeitpunkt des Treffens endet. Eines Abends fragt mich Diana, meine Frau, warum Patrick sich an sie wendet. Aus Höflichkeit, antworte ich. Vielleicht möchte er ihr Hallo sagen und bringt die Dinge durcheinander, weil er nicht so gut Italienisch kann. Diana sieht mich an, als glaubte sie mir kein Wort.
Ich halte Patrick weiter über die Ergebnisse unserer Ermittlungen auf dem Laufenden. Seit einiger Zeit kommt er nicht mehr in die Dienststelle. Ich lege ihm meine Ansichten zu den Ereignissen der Woche dar, obwohl wir gar keine Kollegen sind. Aber ich gebe ihm zu verstehen, dass ich es gern werden würde. Ihm alle diese Informationen zu übermitteln ist der beste Weg, es ihn wissen zu lassen. Und seine Antwort ist jedes Mal, man habe ihn schon unterrichtet.
An diesem Montag im Januar, dem Tag, an dem der Libanese mit dem Sprengstoff am Flughafen Linate festgenommen wird, begrüße ich Patrick mit einiger Befangenheit. Nicht weit entfernt wartet meine Mannschaft in einem weißen Alfa Romeo auf mich, einer Alfetta, die unser Dienstwagen ist. Ich schicke mich an zu gehen. Patrick gibt mir die Hand und zieht gleichzeitig mit der Linken etwas aus seiner hinteren Hosentasche. Mit einer blitzschnellen Bewegung und einem festen Blick in meine Augen lässt er seine Finger in meine Hemdtasche unter der offenen Winterjacke gleiten. Ein Beobachter der Szene hätte es nicht einmal bemerkt, so schnell verlief die Übergabe. Mir dagegen kam sie vor wie eine Ewigkeit. Ich sage nichts. Ich drücke ihm die Hand noch fester und hoffe, keine Regung gezeigt zu haben. Ich möchte einen guten Eindruck machen.
Erst abends, zu Hause, sehe ich nach, was in der Brusttasche meines Hemds ist. Ich ziehe ein Stück Papier heraus. Es ist viermal gefaltet. Es hat merkwürdige Farben und fühlt sich für Papier ungewöhnlich an. Ich falte es auseinander und sehe das Porträt des Malers Michelangelo Merisi da Caravaggio. Es ist ein 100.000-Lire-Schein. Patrick und ich sind Kollegen geworden.
»Hunderttausend Lire, nach heutigem Wert mehr als 50 Euro, sind für einen Beamten wie mich kein Pappenstiel«, sagt Simone Pace. Ich schaue ihn an und nicke.
Meine Freundschaft mit Patrick entwickelt sich weiter. Er vertraut mir. Wir treffen uns in Mailand oder in Florenz, denn er kommt ja aus Rom. Und ich weiß mich nützlich zu machen. Ich informiere ihn immer detaillierter über die wichtigsten laufenden Ermittlungen. Manchmal bittet er mich um Dokumente. Manchmal gebe ich sie ihm, ohne dass er darum bittet. Es sind Unterlagen, die ihm helfen zu verstehen, wie Italien funktioniert und welches die neuen terroristischen Bedrohungen sind. In jenen Jahren hat noch niemand einen Scanner zu Hause. Ich muss alles fotokopieren. Heimlich, ohne dass die Kollegen etwas merken. Auch Patrick trifft Vorkehrungen. Der CIA-Chef in Italien späht ein verbündetes Land aus, eine mit den Vereinigten Staaten befreundete Regierung. Es wäre nicht gut, wenn er sich dabei erwischen ließe. Es hätte schwerwiegende Konsequenzen für ihn. Und so erscheint er zu unseren Treffen mit einem Diplomatenkoffer. Er ist Konsul, er kann es sich erlauben. Ich nicht. Wenn sie mich schnappen, ist es mein Problem. Das sagt Patrick mir klar und deutlich.
Eines Nachmittags in Florenz gibt er mir einen Zettel. Die Bewegung geschieht so schnell und unvermittelt wie in Mailand, als er mir den ersten 100.000-Lire-Schein zugesteckt hat. Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Der Zettel ist viermal gefaltet, wie immer. Ich entfalte ihn abends zu Hause. Er enthält eine handschriftliche Nachricht: » Golden Door , Innsbruck. Wir werden Dianas Geburtstag feiern, wenn auch einen Monat zu spät und einen Tag zu früh. Das Fest beginnt um 20.30 Uhr.«
Ich sitze in der Küche. Diana spielt im Kinderzimmer mit unserer Tochter. Ich höre die beiden singen. Diana hat eine wunderschöne Stimme, und die Kleine wiederholt die Strophen und bringt dabei manchmal die Wörter durcheinander. Ich trinke einen Schluck Tee aus der Tasse, die meine Frau mir auf den Tisch gestellt hat, und betrachte wie hypnotisiert die aus einem Notizblock herausgerissene Seite. Ich bin so versunken, dass ich Diana mit dem Kind auf dem Arm erst bemerke, als ich mich umdrehe. Sie versucht zu lesen, was auf dem Zettel steht. Instinktiv stelle ich die Tasse darauf, eine ungeschickte Geste. Ich verschütte etwas Tee, der auf den Zettel schwappt. Diana tut, als ob nichts wäre. Zwischen uns gibt es eine stillschweigende Vereinbarung: Ich spreche nicht über meine Arbeit, und sie stellt mir keine Fragen.
Aber trotz unseres Paktes merke ich, dass meine Geste sie geärgert hat. Eine Frau ist und bleibt eben eine Frau. Diana seufzt, um ihren Unmut zu bekunden. Wer weiß, was sie glaubt, das ich ihr verheimliche. Und ohne mir Zeit für eine Bemerkung zu lassen, drückt sie mir die Kleine in die Arme, dreht sich um und geht ins Wohnzimmer. Wie üblich murmelt sie etwas Unverständliches vor sich hin. Na gut, denke ich, dann hole ich sie eben und lasse sie die Nachricht lesen. Ich möchte nicht, dass es zwischen uns zu Misstrauen oder Unstimmigkeiten kommt. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass der Zettel nahezu verschwunden ist. Er ist nur noch ein Faserbrei. Ich hebe ein noch intaktes Fetzchen mit Daumen und Zeigefinger hoch und führe es an die Lippen. Als es mit Spucke in Berührung kommt, löst es sich auf.
Ich habe nicht recherchiert. Ich war in keinem Reisebüro. Einen Monat minus einen Tag nach dem Geburtstag meiner Frau, dem Datum des Treffens in Innsbruck, breche ich um sechs Uhr morgens von zu Hause auf. Ich bin deshalb so früh dran, weil es nicht einfach ist, am Bahnhof einen Parkplatz zu finden. Ich lasse den Wagen auf der Piazza Duca d’Aosta, Ecke Via Napo Torriani stehen. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Es ist ein Samstag, doch es herrscht nicht viel Verkehr. Am Hauptbahnhof kaufe ich eine Fahrkarte nach Innsbruck. Ich zahle bar. Abfahrt 9.05 Uhr. Ankunft 14.32 Uhr. Fünfeinhalb Stunden Fahrt.
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