Die Flure des Justizpalastes, menschenleer und nachts ziemlich unheimlich, verstärken den Widerhall meiner Schritte. Die Luft scheint dumpfer als sonst. Ich schaue durch die Fenster hinaus, bevor ich am Ausgang bin. Die riesige Statue der Justitia im Hof des Gerichtsgebäudes wirkt nicht so grau und streng wie sonst, sie hat sich in eine Dame ganz in Weiß verwandelt. Ich reiße die Augen auf, um das Bild scharfzustellen. Es muss eine Menge Schnee gefallen sein.
Der Haupteingang ist natürlich geschlossen. Ich wende mich nach links ins große Atrium und passiere die wachhabenden Carabinieri, die gewöhnlich am Einfahrtstor Posten stehen. Aber es ist zu kalt, und so haben auch sie sich ins Innere geflüchtet.
Ich grüße mit einer Bewegung des Kinns. Ich öffne die Glastür. Die Stufen sind kaum zu erkennen. Wo ist mein Auto? Ich war sicher, dass ich es vor dem Justizgebäude geparkt hatte. Ich fange an, mit den Händen dicke Schneeschichten von den Autos zu schaufeln. Endlich habe ich meines gefunden. Die Verabredung mit Andrea ist mir fast egal, so abgelenkt bin ich von dieser ungewohnten Szenerie. Es sind dicke, gemächlich fallende Flocken. Aber bevor sie sich auf dem Weiß der Straße niederlassen, überlegen sie es sich noch einmal anders und steigen in lautlosen Kapriolen erneut auf. Ich puste in die Luft, um die Wirkung zu beobachten. In der Stadt habe ich es schon seit Jahren nicht mehr so stark schneien sehen. Es ist ein magischer Tanz. Ich hebe die Nase ins Gegenlicht der Laternen und sehe die Kristalle in den einzelnen Flocken glitzern. Es sind Kristalle von Sternen, Zuckerkörnchen, Quarzrhomben, die sich aneinander anlagern, bis sie Wolken aus schwebenden Blütenblättern bilden. Und wenn sie die Erde erreichen, bleiben sie mit ihren eisigen Reflexen liegen und warten darauf, von anderen Flocken überlagert zu werden.
Es schneit so stark, dass man zusehen kann, wie die Schneeschicht wächst. Ich setze mich mit dem Gedanken ans Steuer, wie ich am nächsten Morgen ins Büro kommen soll. Ich rutsche ein wenig, während ich in die Einbahnstraße Richtung Via San Barnaba einbiege. Und da steht er, mitten auf der Straße: Andrea ist schon da.
Die Gehsteige sind unpassierbar. Ich fahre so langsam, dass ich nicht einmal bremsen muss. Er öffnet die Beifahrertür, und beim Einsteigen bringt er einen Schwall Guerlain Vetiver mit. Er trägt immer so viel davon auf, dass wir, als er noch bei uns gearbeitet hat, schon an der Parfümwolke wussten, ob er da ist oder nicht. Durch die geöffnete Tür dringt auch ein eiskalter Luftzug in den Wagen, der mir von den Beinen bis in den Magen steigt, sodass ich fast einen Krampf bekomme.
Andrea grinst. Ich weiß nicht, was es zu grinsen gibt. Aber er ist immer fröhlich und selbstsicher. Ich biege nach rechts ab. Dann noch einmal nach rechts in die Via della Guastalla bei der Synagoge. Und dann noch mal nach rechts auf den Corso di Porta Vittoria. Auf der rechten Straßenseite, gleich hinter dem Haupteingang des Justizpalastes, halte ich an. Die große beleuchtete Uhr auf dem gegenüberliegenden Gebäude springt auf 00.15, die angezeigte Temperatur beträgt zwei Grad unter null. Sie ist stark gestiegen, verglichen mit der Kälte der vergangenen Nächte.
»Wie ist dein neuer Job?«, frage ich ihn. Er antwortet nicht sofort. Er wartet darauf, dass ich ihn mustere. Er will sicher sein, dass ich auch unter diesen Umständen seine Kleidung bemerke. Sportlich, aber elegant. Blauer Kaschmirmantel. In der Jackentasche unter dem Mantel der unverwechselbare Montblanc-Kugelschreiber. Und die Rolex Daytona, auf die er mächtig stolz ist und die mittlerweile mit seinem Handgelenk verwachsen sein muss.
»Mit einem Kugelschreiber fängt es an«, sagt Andrea, fast als könne er meine Gedanken lesen. Ich verstehe. Er versteht, dass die Botschaft angekommen ist. Und damit wechseln wir das Thema.
»Hör zu, Simone«, beginnt Andrea. »Giacomo hat in Mailand ein Büro aufgemacht, in der Via Turati, und am Donnerstag dem 17. ist die Eröffnung. Er möchte, dass du dabei bist. Und ich auch.«
Ein Büro? Sie haben sich also an mich erinnert. Vielleicht springt ja etwas dabei heraus. Vielleicht werde ich wie Andrea den Job wechseln und ein normales Leben führen können. Nicht wie heute, wo ich sonntags in einem Raum eingesperrt bin und Telefonate transkribiere, während der Rest der Welt sich amüsiert. Mir ist augenblicklich klar, dass ich nicht lange überlegen darf. Andrea wartet auf meine Antwort. Ich spüre, dass ich an einem Scheideweg stehe. Und wenn man sich verlaufen hat, wenn man nicht mehr weiß, wohin man unterwegs ist, ist es egal, welchen Weg man einschlägt. Auch wenn man keine Ahnung hat, wohin er einen führt. Auch wenn Giacomo mir überhaupt nicht gefällt.
»Ja, danke. In Ordnung«, sage ich und lege meine rechte Hand auf seine linke Schulter, wie um einen Pakt zu besiegeln.
»Also dann ciao«, verabschiedet sich Andrea. »Und komm nicht ins Rutschen«, fügt er hinzu und deutet auf die verschneite Straße. Er muss immer das letzte Wort haben. Er steigt aus und verschwindet hinter der Ecke der Via Manara.
Wohin geht er? Zu Fuß, bei dieser Kälte. Ich bin versucht, ihm zu folgen. Aber es ist eine Einbahnstraße, und ich stehe direkt unter dem Einfahrtsverbotsschild. Ich fahre um den Häuserblock herum. Auch ich möchte ihn überraschen. Aber Andrea ist verschwunden. In der Ferne, in der vom stetigen Schneefall diesigen Luft, sieht man nur die Scheinwerfer eines Geländewagens. Das Bild ist verschwommen, und ich erkenne weder das Modell, noch kann ich das Nummernschild lesen.
Am Tag der Begegnung mit Giacomo, am Anfang der Via Turati, zwei Schritte vom amerikanischen Konsulat entfernt, laufe ich Filippo über den Weg. Er ist noch dicker eingemummelt als sonst und trägt wieder den Schal um den Hals, von dem er sich niemals trennt. Er scheint nicht überrascht, mich zu sehen. Ich bin es schon. Ich sehe ihn fragend an. Er hebt den Blick zu den Schneeflocken, die beharrlich vom Himmel fallen. Er zieht eine Grimasse, die ein Lächeln sein will, und schiebt mich in Richtung der Eingangstür des Hauses mit der Nummer, die Andrea mir genannt hat. Die Via Turati ist eine elegante Straße, die von der Piazza della Repubblica mitten ins Mailänder Modeviertel führt: Via Manzoni, Via della Spiga, Via Monte Napoleone, Lichter und Schaufenster, Mode und Milliarden – bis zur Statue des bärtigen Leonardo da Vinci, die die Piazza della Scala beherrscht.
»Schau«, sage ich, »da ist ein Schild: James & Brothers – sechster Stock.«
Filippo, der kein Englisch kann, will wissen, was das bedeutet.
»Gebrüder Giacomo«, sage ich.
Der Lift öffnet sich. Eine Etage mit blauem Teppichboden und dem gedämpften Licht von Wandleuchten. Eine der drei gepanzerten Türen ist halb geöffnet, von innen sind Stimmen zu hören. Eine ist unverwechselbar die von Mattia mit seinem süditalienischen Akzent. Ein starker Tabakgeruch überlagert fast das Parfüm. Natürlich Guerlain Vetiver. Andrea, unser Jesusknabe, ist also schon da.
Die Räume sind völlig kahl. Ein Konferenztisch. Ein paar Stühle. Telefon. Fax. Außer nach Rauch und Parfüm stinkt es nach nassem Hund, vielleicht der feuchte Teppichboden. Ein Geruch so ekelerregend, dass ich möglichst schnell wieder wegwill.
Giacomo hat sich zum Fenster gedreht, die brennende Zigarre zwischen den Fingern. Und vor dem Fenster das Zentrum von Mailand, komplett weiß. Ich begrüße ihn mit einem festen Händedruck. Ich sehe ihm scharf in die Augen.
»Es hört nicht mehr auf«, sagt er und deutet auf den Schnee, der seit vier Tagen fällt. Auf den Straßen liegt er siebzig Zentimeter hoch, außerhalb der Stadt mehr als einen Meter. In den Zeitungen und im Fernsehen sprechen sie bereits von einem Jahrhundertschnee.
Ich bin überrascht. Fast alle, die bei dem ersten Treffen im Restaurant Ibiza dabei waren, sind hier versammelt. Damit ist klar: Sie haben sich weiterhin getroffen, aber mir hat niemand etwas gesagt. Trauen sie mir etwa nicht? Und warum beziehen sie mich jetzt wieder ein? Ich bemühe mich, meine Verblüffung zu verbergen. Das Gefühl der Übelkeit wegen des Hundegeruchs und die Nervosität, die mir vom Magen in den Kopf steigen, werden immer stärker. Aber wie ein versierter Schauspieler fange ich an, einen nach dem anderen zu betrachten, und versuche, jede Emotion zu kaschieren.
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