Man darf eine solche Zeit der Beschaulichkeit, der Übersicht nicht als eine Phase der Tatenlosigkeit ansehen. Äußerlich angeschaut, ist sie vielleicht noch durchdrungener von Taten als der Mars-Abschnitt unseres Lebens. Doch im gesunden Sinne einer Entwicklung wird man jeder dieser Taten entnehmen können, dass sie für das Wohl der Allgemeinheit geschehen und nicht mehr zum persönlichen Nutzen.
leiblich oft sehr gesunde Zeit
Wenn demgegenüber eingewendet wird, das sei heute aber überhaupt nicht der Fall, so bezeichnet dieser Einwand nur eine traurige, ja, tragische Zeit-Tatsache, ist aber kein Gegenbeweis dieser hier als notwendig erachteten Entwicklungstendenz, und man wird auch immer wieder einzelne Persönlichkeiten finden, an denen diese nun ideal gezeichnete Fähigkeit sichtbar werden kann. Geschieht die Entwicklung im einzelnen Menschen in richtiger Weise, so ist es oft eine – parallel zum 2. Lebensjahrsiebt – leiblich sehr gesunde Zeit, die somit auch die Voraussetzung schafft, im richtigen Sinne viel für andere zu tun.
Ein dann noch einmal ganz wesentlicher Abschnitt folgt dieser beschaulichsten, äußerlich wie innerlich ruhigsten Phase des menschlichen Lebens, die dann von den Saturnkräften beherrschte Zeit nach dem 56. Lebensjahr.
Das 56. bis 63. Lebensjahr – Saturnzeit
Dieser Zeitpunkt um das 56. Lebensjahr, wenn der einzelne Mensch aus der Jupiter- in seine Saturnzeit eintritt, wurde von Bernard Lievegoed in Vorträgen vor Heilpädagogen einmal folgendermaßen charakterisiert:
Krisenjahr Scheitern dessen, was man gewollt hat
»Alle kommen darauf: Zwei Jahre sind wichtig, das achtundzwanzigste und das sechsundfünfzigste. Und das sechsundfünfzigste wird immer beschrieben als ein Krisenjahr im Leben. Wenn man das biografisch bei großen, bedeutenden Menschen verfolgt, dann sieht man im Leben dort einen jähen Abbruch. – Es war das Jahr, in dem Julius Cäsar ermordet wurde von seinen Freunden. Er ging hinein in den Gipfel seiner ausgedehnten Macht – und dann plötzlich wurde er erstochen. Nun – ich führe nur eines an, aber so erlebt man das manchmal. Das sechsundfünfzigste Jahr bedeutet etwas, was in die Saturnzeit hineingeht. Und in die Saturnzeit hineingehen bedeutet, dass alles, was man sich je im Leben erobert hat, noch einmal durch Tod und Auferstehung gehen muss. Noch einmal. Das Leben wird ungeheuer schwer, die Dinge kommen alle wieder zurück, die muss man alle wieder neu erleben. Man erlebt innerlich – nicht äußerlich, aber innerlich – ein Scheitern alles dessen, was man gewollt hat. Man erlebt: Ja, wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, es ist eigentlich nichts geworden von dem, was ich gewollt habe. Man ist natürlich so vernünftig, das nicht hinauszuposaunen und das für sich zu behalten – denn manchmal, wenn man das vorsichtig andeutet, bejahen die Leute das auch gerne. Also das ist etwas, das plötzlich eingreift ins Leben.« 37
Hatte man gerade eine im bisherigen Leben kontinuitätbildende, von Beschaulichkeit beherrschte Zeit durchlebt, kommt nun noch einmal Aufbruchstimmung in das Leben. Je nach der inneren Gestalt einer Biografie kann das in neue Aufgabenstellungen auch äußerer Art münden oder innere Begegnungen erzeugen, die neue Inhalte des Lebens begründen.
Häufigkeit von Herzinfarkten
Im Extrem kann es aber auch den radikalen Aufbruch zu einer ganz neuen Daseinsform bedeuten, nämlich dem Tod. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken für den Herzinfarkt um das 56. Lebensjahr eine plötzliche Spitze in der Häufigkeit zeigen, die dann wieder zurückgeht zu dem langsam steigenden Trend, der schon vor diesem Zeitabschnitt existierte.
Widerstände des Leibes werden deutlicher
In Bezug auf das Körperliche ist in dieser Zeit stark erlebbar, dass die Widerstände, die der Leib dem seelischen und geistigen Leben entgegenträgt, immer deutlicher werden. Die Bewegungen werden eckiger, Sehkraft und Gedächtnis lassen nach, Ernährungsgewohnheiten, Schlafbedürfnis, Anteilnahme am öffentlichen Leben wandeln sich, wobei hier natürlich auch wieder ganz große individuelle Unterschiede bestehen und diese Phänomene heute in vielen Verzerrungen in Erscheinung treten. Die Thematik dieses 9. Lebensabschnitts, in Jahrsiebten gerechnet, wird eigentlich von dem Bild von Tod und Auferstehung geprägt oder von dem mythischen Bild des sich aus der Asche erhebenden Phönix. Spätestens in dieser Zeit wird eine immer stärkere Beschäftigung mit den Lebenstatsachen des Sterbens und des Todes in der menschlichen Seele stattfinden und darf nun nicht mehr betäubt oder verdrängt, sondern muss immer bewusster durchlebt werden.
der Tod als Tor zu neuen Welten
Natürlich ist diese innere Auseinandersetzung und damit zugleich Vorbereitung auf das Lebensende, das ja für den Einzelnen noch weit in der Zukunft liegen kann, nicht auf diesen besonderen Zeitabschnitt beschränkt, ja, muss eigentlich bereits viel früher, zum Beispiel um das 42. Lebensjahr herum, begonnen werden. Doch ist der Mensch in keinem Lebensabschnitt diesen Fragen auch aus seinem Leiblichen heraus so nahe wie im 9. Lebensjahrsiebt. Damit aber begegnet er im höchsten Maße der geistigen Wirklichkeit, vor allem, wenn er die Erfahrung machen kann, dass Tod nicht Ende, sondern Durchgang, Tor zu neuen Welten, zu einem neuen Leben bedeutet, das in der christlichen Terminologie auch ewiges Leben genannt wird. Das gibt den geistigen Flügeln der Seele und des sie ganz durchdringenden Ichs noch einmal ungeheure Schwungkraft.
vom Geistigen durchdrungene Schaffenskraft
War die vorausgegangene Zeit eine Phase der Besinnlichkeit oder Beschaulichkeit, die davorliegende erfüllt von großem, überwiegend auch äußerem Schaffensdrang, so tritt jetzt eine Schaffenskraft in Erscheinung, die ganz vom Geistigen durchdrungen ist. Jetzt erst erwachen wirkliche Weisheitskräfte im Menschen, die zwar in der Jupiterzeit des Lebens veranlagt wurden, sich dort vielleicht auch schon andeutungsweise zeigten, nun aber in ganzer Fülle hervorbrechen können, wenn der Mensch sein Leben entsprechend der ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten leben konnte.
»gesättigtes Wissen«
Versteht der moderne Mensch eigentlich noch die Bedeutung dessen, was das Wort »Weisheit« beinhaltet? Oder erlebt er damit verbunden etwas aus grauen Vorzeiten, was für einen Menschen unserer Zeit gar nicht erstrebenswert ist? Mit 60 Jahren schrieb der deutsche Schauspieler Curd Jürgens (1915–1982) seine Biografie und nannte sie 60 Jahre und kein bisschen weise. Sieben Jahre später verstarb er. In lange vergangenen Zeiten war Weisheit Ziel eines Menschenlebens, es war nicht sicher, ob der Einzelne es erreichte. »Weisheit« kommt von »Wissen«, sie ist ein gesättigtes Wissen, geprägt von der gesammelten Erfahrung eines langen Lebens mit allen seinen Höhen und Tiefen. Mit ihr verbindet sich auch der Ernst, die Ernsthaftigkeit. Das findet sich wieder in den Worten, die nach den auf Rudolf Steiner zurückgehenden »Baumsprüchen« Saturn durch die Bäume des dunklen Waldes zum Menschen spricht, durch Buchen, Tannen und Zypressen (oder Wacholder): »O Mensch, fühle die Verantwortung für die Not deiner Zeit und der ganzen Menschheit. Ergreife mit Innigkeit und Ernst die Aufgabe, die dir das Leben stellt.« 38
Lebensaufgaben ergreifen Wissen über den Tod hinaus
Die griechische Mythologie nennt den römischen Saturn Kronos, eine Urschöpfergestalt, Vater des Zeus und verbunden mit der Zeit. Die Erreichnisse der beiden vorausgegangenen Jahrsiebte kulminieren in dieser Saturnzeit und sammeln sich im Weisewerden. Es muss erstaunen, dass jetzt darauf hingewiesen wird, die Aufgaben – mit Innigkeit und Ernst – zu ergreifen, die einem das Leben stellt. Das war doch längst der Fall, auch die damit verbundene Verantwortlichkeit. Doch nun bekommt dies einen ganz neuen Aspekt: Jetzt wird bereits Zukunft begründet, jetzt weitet sich der Blick in Zeiten nach dem Tod und in ein künftiges Leben. Hier werden Willensimpulse gelegt, die uns aus dem nachtodlichen Leben wieder zu einem irdischen führen. Auch das beinhaltet Weisheit: ein Wissen über den Tod hinaus, unverlierbar, wesentlich auch für die geistigen Hierarchien, die uns immer – hier wie dort – eng verbunden begleiten. Vieles davon tritt gar nicht einmal in unser Wachbewusstsein, bleibt auch für uns im Verborgenen, entschleiert sich erst, wenn wir den Leib abgelegt haben und als Geistseele im Allbewusstsein erwachen.
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