Wichtig für unser Thema ist, dass das Ich in der Stoffeswelt des eigenen Leibes die ganze Vielfalt und Schöpfung der mineralischen Welt findet, wie sie sich im Äußeren dem forschenden Auge als ebensolche Faszination einer Vielfalt erschließt. Nur ist die beobachtende, wahrnehmende Kraft des Ichs nun nicht nach außen in die Welt gerichtet, sondern in eine innere Welt der physischen Kräfte des Leibes.
Verwandtschaft von Natur und menschlichem Leib
Diese Verwandtschaft von Natur und menschlichem Leib ist im Mittelalter immer in den Ausdruck gefasst worden, dass der Mensch einen Mikrokosmos im Makrokosmos darstelle. Man kann diese Anschauung auch so ausdrücken: Jeder menschliche Leib trägt die gesamte Schöpfung von Erde und Kosmos, soweit dieser unserem Weltensystem zugehört, in sich.
materialistische Weltanschauung
Die Begegnung unseres Ichs mit der Wunderwelt der Stoffe bis in die tiefsten Dimensionen ihres materiellen Seins, also der Materie, schuf in der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit die Voraussetzung für die heute weit verbreitete materialistische Weltanschauung. Sie ist auch die Voraussetzung für die unsere Zeit immer noch beherrschende philosophische Anschauung von Immanuel Kant, dass der Mensch nur die Dinge in der Welt wahrnehmen kann, die seinen Sinnen zugänglich sind, während die – auch von Kant nie geleugneten – »Dinge an sich«, das der äußeren Erscheinung zugrunde liegende Wesenhafte sich menschlicher Erkenntnis unmittelbar nie erschließen könne. Dessen Wahrnehmung wurde von der allgemeinen Wissenschaft in das Gebiet der Metaphysik, des Metaphysischen verwiesen, und es wird heute überwiegend als nicht-existent bezeichnet. Das hat ein Element in die Menschheit hineingetragen, das in seinen Schattenseiten heute als große soziale Problematik erlebt wird: die Einsamkeit.
Vereinzelung als zeitnotwendiger Schritt, um uns als Selbst zu erfahren
Es ist ein aus den Ausführungen vielleicht zu ahnendes Phänomen der Bewusstseinsseelenentwicklung, dass der Mensch innerlich immer mehr auf sich selbst verwiesen wird. Damit tritt in der Seele zunächst eine starke Egozentrik auf, die nach außen in der sozialen Haltung auch Egoismus werden kann. Auf der anderen Seite kann diese Vereinzelung, die im Übrigen ein zeitnotwendiger Schritt ist, aber auch zur Einsamkeit werden. Steiner spricht von antisozialen Trieben, die mit der Bewusstseinsseele verbunden sind. Diese brauchen wir, um uns als Selbst zu erfahren. In unserem Immunsystem finden wir deren Abbild. Es wird nur das Selbst geduldet, alles »Nicht-Selbst«, das Fremde, wird (mit zum Teil aggressiven Abwehrkräften) eliminiert. Es gibt allerdings auch den anderen Weg der Aneignung, der immunologisch Verdauung heißt. Das andere Selbst verschmilzt mit dem eigenen und bildet den Urkeim der Gemeinschaft.
Im Grunde genommen muss jeder Mensch durch dieses Nadelöhr von Einsamkeit hindurch, weil dieses tief existenzielle Noterlebnis, vollkommen allein in einer leeren Welt zu sein, die nichts ist oder enthält außer sich selbst, die Wahrnehmungsrichtung des Ichs dann wieder auf die schöpferische Unendlichkeit dieser Welt ausrichten kann. Diese ist aber nur in ihrer geistigen Realität wirklichkeitsbildend im menschlichen Ich-Erleben. Das kann auch so ausgedrückt werden: Durch die »Erblindung« in der Einsamkeit wird das innere Auge geöffnet für den geistigen Gehalt dieser Welt, wird die Bewusstseinsseele zunächst anfänglich verwandelt in Geistselbst. Ein Bild, ja eine Imagination für diese Entwicklung ist das Gleichnis von der Heilung des Blindgeborenen (Johannes 9,1–41) wie überhaupt die vielen Heilungen Blinder in den Evangelien.
Diesen Entwicklungsweg hat Christian Morgenstern in dichterische Form gebracht: 32
Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.
Eine Spanne gehn wir,
scheint es, im Chor …
bis zuletzt sich, sehn wir,
jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer’s ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
ewiger Bund.
zwei notwendige Seelenkräfte
In dieser Entwicklung vom 35. zum 42. und dann vom Wendepunkt des 42. zum 49. Lebensjahr sind zwei Seelenkräfte notwendig, deren Durchleben und Beherrschung für jeden modernen Menschen unabdingbar sind. Gemeint sind der der Bewusstseinsseele entspringende Zweifel und der aus der Kraft des Geistselbst strömende Mut.
Abstraktion
Seit das Ich in der Evolution ab dem Anfang des 15. Jahrhunderts n.Chr. die Bewusstseinsseele bildet, indem es in die Tiefen der Naturreiche, der Stoffe und ihrer Gesetzmäßigkeiten stieg, entstand auch die Naturwissenschaft. Sie, die zunächst in ihren Ursprüngen noch vom Durchdrungensein geistiger, schöpferischer Kräfte getragen war, wurde erst etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr von dem philosophischen Materialismus erfasst und schließlich in eine totale Abstraktion getrieben, in der an die Stelle schöpferischer, geistiger Kräfte eine Art »Deus ex machina« gestellt wurde.
Diese Geist- oder Gottlosigkeit unserer Zeit ist nun aber gerade das vorhin aus einer anderen Perspektive beschriebene Nadelöhr, durch welches der Mensch nun einen freien Zugang zu den Wirklichkeiten finden wird, die in das Metaphysische verwiesen wurden. So merkwürdig dieser Gedanke vielleicht auch frommen oder gemütvollen Menschen erscheinen mag, so ist der Zweifel des modernen Naturwissenschaftlers die Voraussetzung, als eine auf sich gegründete, freie Persönlichkeit den Weg zum Geist oder zu Gott zu finden. Wenn auch dieses Wort »Zweifel« heute überwiegend als negative Eigenschaft erlebt wird, so ist sie doch eine ganz positive, treibende Kraft unserer Zeit, ohne die eine moderne Naturwissenschaft gar nicht existieren würde.
Zweifel als Motor unserer Zeit
Auch im Sozialen sind alle Veränderungen nur dadurch entstanden, dass die Tradition, die traditionelle Überlieferung vom Zweifel befragt und mehr und mehr über Bord geworfen wurde. Heute bildet jeder Mensch eine Welt für sich, scheint das Genom unser schöpferisches Prinzip zu sein, hat vermeintlich Meister Zufall als Urknall diese wunderbare Schöpfung, die wir unsere Welt nennen, entstehen lassen. Descartes’ Satz »Ich denke, also bin ich« lautet für unsere Zeit »Ich zweifle, also bin ich«. Der alles, wirklich alles infrage stellende Zweifel ist der Motor unserer Zeit und ein erstaunlich dominantes Wort das »Aber«. Wird der Zweifel zum Beherrscher des Menschen, sein tiefster Trieb, kann daraus rasch Verzweiflung werden (siehe Seite 61f.). Die Gegenkraft, die den Zweifel auf sein notwendiges Maß begrenzt, die ein seelisches Gleichgewicht erzeugt, ist der Mut.
Zivilcourage
Der Mut ist ein sehr spezifisches Element in unserer Seele, das sich ganz mit unserem Ich verbindet und aus dem Geistselbst stammt. Mut ist also eine geistige Eigenschaft, die in die Bewusstseinsseele hineinwirkt. Der Mut durchzieht unser ganzes Leben, er findet Ausgestaltungen in jugendlichem Übermut oder erwachsenem Hochmut, im Älterwerden aber auch in der Demut.
Ungewissheit und Verantwortung
In dem jetzt beschriebenen Lebensabschnitt hat der Mut die Besonderheit, dem Menschen zu helfen, Entscheidungen zu treffen und sich für sie verantwortlich zu machen. Man nennt das auch »Zivilcourage«, und genau so lautet der Titel eines Buches des jungen Senators John F. Kennedy, in welchem er Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte darstellt, deren mutvolle Entscheidungen fruchtbar für die amerikanische Gesellschaft wurden. Das Besondere jeder wirklichen Entscheidung liegt darin begründet, dass ihr Ausgang, ihre Auswirkungen im Moment der Entscheidung immer ungewiss sind. Und dass sie sich immer mit persönlicher Verantwortung verknüpft. Ist es nicht bezeichnend für unsere Zeit, dass immer seltener wirkliche Entscheidungsträger erlebbar werden und dass immer häufiger eine mit der Entscheidung eingegangene Verantwortung nicht übernommen wird? Mut betrifft unsere Handlungsebene, die Sphäre unseres Willens, in welcher Rudolf Steiner den Quell alles Moralischen sah.
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