Ein zartes Geschöpf mit blauen Haaren und glitzernder Haut kam zwischen den anderen hindurchgeschwommen. Ilayda verbeugte sich. Yara sprach: „Du bist die Einzige hier, die sich an Land einen Tag lang bewegen und wieder zu uns zurückkehren kann. Ich werde dir eine andere Gestalt verleihen, sodass niemand dich als Wasserfee erkennen wird.“
Ilayda schreckte zurück. „Tala wird mich durchschauen.“
Yara schüttelte den Kopf: „Nein, nicht, wenn ich dich in Enja verwandle. Gehe morgen ganz früh zum Schloss. Nimm die Kiste hier mit und sage, dass es der Schatz aus dem Meer sei, den ich dir gegeben habe. Tala wird nur Augen für diesen Schatz haben. Zur Sicherheit nimm diesen silbernen Stab mit, er wird Enja sofort betäuben, sobald du sie damit berührst.“
Ilayda war bang ums Herz. Sie schwamm noch vor Sonnenaufgang los, begleitet von vier Wassermännern, die im Wasser mit der Kiste warten würden. Sie verabschiedete sich von ihnen und nahm an Land unmittelbar Enjas Gestalt an. Nun hing alles von ihr ab.
Ilayda betrat das Schloss. Alles war ruhig. Sie ging eine Treppe hinauf und landete auf einem langen Gang. Plötzlich ging eine Tür auf, Enja trat hinaus. Ilayda berührte sie mit dem Stab, brachte sie ins Zimmer und verschloss es hinter sich. Dann schlich sie zur nächsten Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Tala lag dort im Bett.
„Hallo“, flüsterte sie.
Tala sprang auf und zog sofort sein Messer. „Was gibt es denn um diese Zeit so Wichtiges?“, rief er böse.
Ilayda hatte noch nie vor jemandem so viel Angst gehabt, aber sie fasste sich. „Unten am Meer ist eine Abordnung meiner Schwester mit dem versprochenen Schatz. Wenn wir ihnen Maila bringen, gehört der Schatz uns.“
Talas Gesicht hellte sich auf. „Du holst Maila.“
Ilayda lief in den Keller. „Wache“, rief sie, „öffne die Zelle und bring mir die Prinzessin.“ Die Wasserfee hätte sie am liebsten umarmt. Aber das durfte sie nicht. So stieß sie die Prinzessin vor sich her, den Weg zum Meer hinunter. Tala wartete schon.
Die Wassermänner schwammen um die Kiste herum. „Gebt mir euren Schatz.“ Tala baute sich zu seiner vollen Größe auf.
Narius hielt die Kiste fest. „Erst wenn wir die Prinzessin haben.“
„Halt, sie ist eine Betrügerin!“ Enja, die sich irgendwie aus dem Zimmer befreit haben musste, kam angerannt.
Tala blickte von einer zur anderen.
Ilayda lachte: „Du Verräterin, du bist von meiner Schwester gesandt worden, um den Handel zu verhindern. Aber es wird dir nicht gelingen, Tala, den großen mächtigen König zu täuschen.“
Tala schlug Enja mit der Hand beiseite. „Du hast recht, niemand betrügt mich.“
Ilayda übergab dem Wassermann die Prinzessin und nahm die Kiste. Enja hatte sich aufgerappelt und wollte ihr die Kiste wegnehmen. Ilayda berührte sie mit dem Silberstab und sie fiel sofort um. „Hier, mein König.“ Ilayda übergab ihm die Kiste.
Tala befahl seinen Männern, sie zu öffnen. Mit gierigen Augen wartete er. Ilayda sprang mit leichten Schritten ins Meer zurück. Sobald sie tiefer ins Wasser eingetaucht war, verwandelte sie sich wieder.
Tala war entsetzt: „Betrug, die Kiste ist mit Seetang und Muscheln gefüllt.“ Wütend erhob er seine Harpune, die er immer zum Fischen benutzte, und schoss sie ins Meer. Doch statt der Wasserfee traf er Enja. Wütend zertrümmerte er die Kiste und raste solange auf der Insel hin und her, bis er umfiel und nie wieder aufstand.
Heute befindet sich an dieser Stelle ein Felsen, der Teufelsfelsen. Enja ertrank im Meer und die Gesellen des Königs zogen mit Schiffen von dannen. Die Teufelsinsel blieb von da an für alle Zeiten unbewohnt.
Die Meereskönigin schloss ihre Tochter in die Arme und dankte Ilayda für ihren Mut. „Das ist unser wahrer Schatz“, sprach Yara, „unsere Freunde und Familie. Niemals kann jemand diesen Schatz stehlen. Er ist für immer in unseren Herzen.“
Alle Bewohner von Akvo feierten eine ganze Woche lang ihr Glück. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann feiern sie noch heute. Manchmal kann man es sehen, denn dann bewegen sich an der Oberfläche des Meeres die Wellen etwas stärker.
Sabine Nölke wurde 1960 geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf und studierte in Bochum Biologie. Von der Ruhr zog es sie an den Rhein und von dort an die Eder. Seit einem Jahr lebt sie mit ihrem Mann und zwei Hunden im Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen. Sie arbeitet als freie Journalistin und schreibt Kurzgeschichten, Krimis und Gedichte.
*
„Oh“, seufzte die kleine Meerjungfrau Amelia zum fünften Mal. Sie saß an ihrem Lieblingsplatz, also auf dem großen Stein, der immer aus dem Wasser hervorlugte. Er glänzte an der Oberfläche. Sie beobachtete das Meer bereits seit Stunden und war dabei ganz still. Was die kleine Meerjungfrau so sehr interessierte, flog am Himmel. Die Schmetterlinge faszinierten sie sehr.
„Ich würde so gerne eure Farben haben. Die sind ja wirklich fabelhaft! Außerdem würde ich gerne fliegen können“, sagte sie zu einem der bunten Schmetterlinge, der in ihrer Nähe flog. „Schwimmen ist so langweilig“, bemerkte Amelia. „Ich möchte ein Schmetterling sein.“ Und sie hoffte, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde.
Die bunten Schmetterlinge verstanden sie natürlich nicht. Die kleine Meerjungfrau Amelia, die eigentlich auch in wunderschönen Farben schimmerte, hüpfte von Stein ins Wasser. Sie schwamm geschickt auf den Meeresboden. Dort fand sie ein kleines Häuschen. Ja, das musste es sein. In diesem Häuschen wohnte die liebe Meerjungfrau, die über Zauberkräfte verfügte. Die kleine Meerjungfrau klopfte unsicher an der Holztür. Auch wenn das Häuschen im Wasser stand, war es überhaupt nicht nass.
„Wahrscheinlich wurde dieses Haus mit Zauberkräften gebaut“, dachte Amelia.
Kurz darauf öffnete sich die Tür ganz von allein. Die kleine Meerjungfrau schwamm in das gemütliche Zimmer hinein. Dort saß auf dem Sofa die liebe Meerjungfrau namens Luna. Sie war so in ihr Buch vertieft, dass sie die Besucherin überhaupt nicht bemerkte.
„Hallo“, sagte die Meerjungfrau Amelia leise.
„Oh, Entschuldigung, ich habe dich nicht kommen hören!“, erschreckte sich Luna und stand auf. Sie räumte das Buch ins Regal, während sie Amelia nach ihrem Wunsch fragte.
„Kannst du mich in einen bunten Schmetterling verwandeln?“
„Willst du das wirklich?“, fragte Luna nach.
„Ja“, antwortete Amelia sicher.
„Gut. Dann komm in der Nacht wieder her, wenn der Mond hell scheint. Dann kannst du ein Schmetterling werden“, sagte Luna.
Amelia schwamm nach Hause. Sie konnte es kaum erwarten. Als es endlich so weit war, verließ sie ihr Unterwasserschloss. Im Meer war es ganz still. Alle schliefen. Bis auf die liebe Luna und Amelia. Die Meerjungfrau Amelia schwamm zu ihrem Lieblingsplatz. Die liebe Meerjungfrau Luna wartete dort bereits auf sie. Amelia war ziemlich aufgeregt. Luna umhüllte Amelia mit einer bunten, glänzenden Magie und murmelte leise einen Zauberspruch vor sich hin:
Es ist jetzt Nacht
Die Sterne funkeln
Der Mond erwacht
In stiller Nacht.
Es leuchten hundert Sterne
Die sieht man schon aus der Ferne
Du sitzt noch da und kurz danach
Fliegst du hoch in die dunkle Nacht!
Amelia flog von dem Stein aus in die Luft. „Du bist ein Schmetterling geworden!“, freute sich Luna. „Der Zauber ist tatsächlich gelungen!“
Amelia war froh, im Himmel sein zu können. Endlich! Sie flog herum, musste unbedingt die Welt von oben sehen, die Vögel am Strand und auch die Blumen riechen zu können. Sie konnte mit den Delfinen, ihren Freunden, in die Luft springen.
Bald lernte sie neue Schmetterlingsfreunde kennen. Mit ihnen spielte sie oft in der Luft lustige Spiele. Die machten besonders viel Spaß. Nach vielen fantastischen Momenten dachte sie: „Oje. Zwar habe ich jetzt Schmetterlingsfreunde, aber ich habe keine Freundinnen bei den Meerjungfrauen mehr!“ Auf einmal wollte sie wieder eine Meerjungfrau sein.
Читать дальше