1 ...7 8 9 11 12 13 ...41 10
Dieser Grundsatz ist in Art. 103 II GG mit Verfassungsrang ausgestattet und beinhaltet vier Einzelausprägungen:
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1. Ausschluss von Gewohnheitsrecht (lex scripta)
Gesetzlichkeit erfordert schon nach dem Wortsinn gesetztes, d. h. geschriebenes Recht. Strafbegründendes oder strafschärfendes Gewohnheitsrecht ist daher ausgeschlossen.
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2. Bestimmtheitsgebot (lex certa)[26]
a)Es gibt keinen allgemein gültigen Bestimmtheitsgrad.
b)Das Erfordernis der Tatbestandsbestimmtheit schließt nicht die Verwendung von Begriffen aus, die der wertenden Deutung durch den Richter bedürfen.
c)Einzelkriterien:
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Voraussehbarkeit der richterlichen Handhabung für den Normadressaten. |
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Tatbestand muss zumindest das geschützte Rechtsgut erkennen lassen. Zu unbestimmt wäre z. B. ein Gesetz mit dem Wortlaut: „Wer sich unangemessen benimmt, wird angemessen bestraft“. Entscheidend ist das sog. Konkretisierbarkeitskriterium, d. h. wenn ein Tatbestand ohne große Schwierigkeiten kasuistisch erfasst werden kann, so ist grundsätzlich hinreichende Bestimmtheit gegeben. |
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Verhältnismäßigkeitsprinzip: Je schwerer die angedrohte Strafe ist, desto präziser muss das Gesetz die Strafbarkeit bestimmen. Ist dies nicht der Fall, so wird man aufgrund des ultima ratio-Prinzips den Tatbestand im Zweifel teleologisch reduzieren müssen. |
Beispiel:Da Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird, ist zu erwägen, ob man hier die Tatbestandsvoraussetzungen nicht zu lockern hat. So liest man bei Sinn zu § 211 StGB den denkwürdigen Hinweis: „Da die Strafe starr ist, muss der Begriff flexibel sein.“[27]
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3. Analogieverbot (lex stricta)[28]
a)Anwendungsbereich Das Analogieverbot dient dem Schutz des Einzelnen. Daher ist gegen eine täterbegünstigende Analogie nichts einzuwenden.
b)Wesen und Bedeutung der Analogie Die Analogie ist eine Methode richterlicher Rechtsergänzung durch Ausfüllung planwidriger Regelungslücken im Wege der Übertragung eines einem Tatbestand (Gesetzesanalogie) oder einer Mehrheit vergleichbarer Tatbestände (Rechtsanalogie) zugrunde liegenden Gedankens auf einen gesetzlich nicht geregelten ähnlichen Fall.
c)Grenze zwischen Auslegung[29] und Analogie[30] Die Grenze wird von der ganz h. M. beim „noch möglichen Wortsinn“ gezogen.[31] Neben der grammatischen Auslegung (Ermittlung des Wortsinns der gesetzlichen Begriffe) spielt die systematische Auslegung (der Zusammenhang, in dem sich die Vorschrift befindet), die historische Auslegung (Orientierung am Willen des historischen Gesetzgebers) sowie vor allem die teleologische Auslegung[32] (Interpretation nach Sinn und Zweck des Gesetzes) eine Rolle. Darüber hinaus ist aber auch auf eine verfassungs- und europarechtskonforme Auslegung zu achten.[33] Jedes Interpretationsergebnis, das zulasten des Täters den möglichen Wortsinn verlässt, überschreitet die Grenze von der zulässigen Auslegung hin zur verbotenen Analogie.
Beispiel:A setzt den B mit dem bloßen Hintern auf eine heiße Herdplatte (RGSt 24, 372); A schlägt den Kopf des B gegen eine Hauswand (BGHSt 22, 235).
Lösung:Hier wird von der h. M. aufgrund des Analogieverbots eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 I Nr. 2 StGB abgelehnt, weil die Benutzung festgefügter Gegenstände wie Herdplatte oder Hauswand nach dem Sprachgebrauch nicht unter den Begriff des Werkzeugs fallen könne, da dieser Beweglichkeit voraussetze. In der Lit. wird dies zwar bestritten, jedoch wird man der h. M. deshalb Recht geben müssen, weil niemand derartige Gegenstände als Werkzeug bezeichnet, mag die Wirkung auch die gleiche sein. Der Zweck der Vorschrift kann also den Wortlaut nicht überschreiten. Freilich wird man je nach Tatbild beim Schlagen des Kopfes gegen eine Hauswand ggf. § 224 I Nr. 5 StGB (lebensgefährdende Behandlung) bejahen können und bei schweren Verbrennungen wird sogar § 226 StGB in Frage kommen, sodass sich das Problem zumindest relativiert.
Als besonders schillernder Begriff im Grenzbereich zwischen Auslegung und Analogie hat sich das Merkmal der „Gewalt“ im Rahmen des § 240 StGB erwiesen.[34] Das BVerfG[35] hat diesbezüglich mit Blick auf Art. 103 II GG klargestellt, dass ein Täter Gewalt i. S. des § 240 StGB nur anwendet, wenn er durch körperliche Kraftentfaltung Zwang auf sein Opfer ausübt und dieser Zwang nicht lediglich psychisch wirkt, sondern auch körperlich empfunden wird. Die bloße körperliche Anwesenheit und eine dadurch ausgelöste psychische Zwangswirkung auf den Genötigten genügten daher für die Annahme von Gewalt nicht. Im konkreten Fall handelte es sich um eine Sitzblockade, durch die verhindert werden sollte, dass Fahrzeuge ein Kasernentor passieren. Das BVerfG verneinte hier gerade im Hinblick auf den ersten herannahenden Fahrer die Annahme von Gewalt, da ein vergeistigter Gewaltbegriff die natürliche Wortlautgrenze überschreite. Später hat der BGH in seiner sog. Zweite-Reihe-Rspr. allerdings Gewalt gegenüber den weiteren herannahenden Kraftfahrern angenommen, da diese infolge des Anhaltens des zuerst Eintreffenden durch die jeweils vor ihnen befindlichen Fahrzeuge eine unüberwindbare und damit physische Barriere vorfänden (vgl. zum gesamten Problemkomplex ausführl. Jäger , BT, Rn. 149 f.).[36]
Unklar war, welche Auswirkungen diese Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG auf andere Sachverhalte hat. Jedoch hat das BVerfG versucht, seiner Auffassung Konturen zu verleihen. Dies zeigt folgendes
Beispiel[37] :A fuhr der F innerhalb geschlossener Ortschaft im dichten Kolonnenverkehr nahe auf, betätigte den Blinker, gab mehrfach Licht- und Hupsignale und fuhr bei etwa 50 km/h bis auf ca. 1 m auf das Kfz der F auf. Der ganze Vorgang verlief über eine Strecke von etwa 300 m. Die F wurde dadurch in einen Angst- und Nervositätszustand versetzt, der sie zunehmend fahrunsicher machte. Dennoch gelang es ihr, sich in den dichten Kolonnenverkehr der rechten Fahrspur einzuordnen.
Lösung:Das BVerfG hat im Beispielsfall eine nötigende Gewalt i. S. des § 240 I, II StGB bejaht. Dabei machte es noch einmal deutlich, dass eine rein psychische Zwangswirkung für die Annahme von Gewalt nicht genügt. Vorliegend lasse sich zunächst die den Auffahrvorgang ausmachende dynamische Bewegung des Kraftfahrzeugs ohne Weiteres als Kraftentfaltung begreifen, die auch im Betätigen des Gaspedals als unrechtsrelevantes Verhalten gesehen werden könne. Sofern die Auswirkungen dann körperlich empfunden werden, also zu physisch merkbaren Angstreaktionen führen, liege auch auf Opferseite ein körperlicher Zwang vor, der – auch gemessen an verfassungsrechtlichen Maßstäben – Gewalt sein könne. Dabei müsse der Fahrzeugführer bei bedrängender Fahrweise grundsätzlich auch damit rechnen, dass sein Verhalten zu Furchtreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer führen kann. Ob in einem derartigen Fall auch § 315c I Nr. 2b StGB wegen „falschen Überholens“ vorliegt, ist Tatfrage (es hängt insbesondere davon ab, ob man das Verhalten als grob verkehrswidrig einstufen und von einem Beinaheunfall ausgegangen werden kann). Nicht gegeben sein dürfte regelmäßig § 315b StGB, da bei ihm im fließenden Verkehr eine Pervertierung des Straßenverkehrs vorausgesetzt wird und die Rspr. diesbezüglich sogar einen Schädigungsvorsatz verlangt (vgl. näher dazu Jäger , BT, Rn. 690 a. E.).
Man muss sich klar machen, dass die soeben genannte Entscheidung des BVerfG auch auf andere Konstellationen Auswirkungen haben kann. So wird man künftig auch das Bedrohen mit einer Pistole zumindest dann als Gewalt begreifen können, wenn es beim Opfer zu einer körperlichen Schreckreaktion führt. Die Problematik der verfassungsgerichtlichen Rspr. liegt freilich darin, dass eine rechtssichere Handhabung kaum mehr möglich ist, weil die Bejahung von Gewalt von der schwer überprüfbaren „Belastbarkeit“ des Opfers abhängt. Das BVerfG hat dies allerdings gesehen und darauf hingewiesen, dass es jeweils auf die Umstände des Einzelfalls ankommen wird (vgl. zum Ganzen auch Jäger , BT, Rn. 141).
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