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Lösung:
I.In Betracht kommt hier ein mittäterschaftlicher Totschlag nach §§ 212, 25 II StGBdurch R und V.
1. Tatbestandsmäßigkeit
Fraglich ist, ob eine Tötung nach § 212 im Sinne einer Verkürzung menschlichen Lebens verwirklicht wurde. Ausschlaggebend dafür ist die Frage, ob die Tötungsdelikte nach §§ 211 ff. StGB bereits anwendbar waren oder ob noch die Vorschrift über den Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB einschlägig war.
a)Was den Zeitpunkt der strafgesetzlichen „Menschwerdung“ anbelangt, so schließt sich der 5. Senat der herrschenden Auffassung[13] an, wonach der Zeitpunkt der Anwendbarkeit der §§ 211 ff. StGB durch das Einsetzen der Eröffnungswehen gekennzeichnet ist. Zu Recht widerspricht der fünfte Senat denjenigen Stimmen in der Literatur, die sich gerade angesichts des hier zu beurteilenden Sachverhalts für eine Verlegung des maßgeblichen Zeitpunkts auf das Ende der Geburt ausgesprochen haben. Er beruft sich dafür auf den Willen des Gesetzgebers. Dieser habe bei Streichung des § 217 a.F. durch das 6. StrRG[14] (unzeitgemäße Privilegierung der Tötung eines nichtehelichen Kindes durch die Mutter in oder gleich nach der Geburt) deutlich gemacht, dass der Lebensbeginn im Sinne der §§ 211 ff. StGB mit Einsetzen der Eröffnungswehen („in der Geburt“) durch die Abschaffung dieser Vorschrift nicht verändert werden solle.[15] Auch betont der 5. Senat noch einmal, dass die durch das Strafrecht abgesicherte Schutzbedürftigkeit des bereits in der Geburt befindlichen Kindes erhöht sei, so dass eine verstärkte auch strafrechtliche Absicherung erforderlich sei. Zu Recht betont der BGH dabei, dass der Wortlaut des § 218 StGB eine solche Auslegung zulasse. Allerdings bleibt der BGH an dieser Stelle eine nähere Begründung schuldig. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil § 218 StGB selbst nur von einem Abbruch der Schwangerschaft spricht, ohne das Ende der Schwangerschaft selbst näher zu definieren. Aber im Ergebnis muss man auch hier dem 5. Senat darin zustimmen, dass der Wortsinn des § 218 StGB eine solche Auslegung ermöglicht. Dafür spricht vor allem auch der Gesichtspunkt, dass das Kind spätestens mit den Eröffnungswehen selbst anzeigt, dass es nun bereit ist, von selbst den Körper der Mutter zu verlassen und damit die Fortsetzung des mütterlichen Lebensschenkungsprozesses zu beenden.[16] Auch wenn dies kein bewusst vom Kinde ausgelöster Vorgang ist, wird die Schwangerschaft mit Einsetzen der Eröffnungswehen auf natürliche Weise abgebrochen, sodass die Vorschrift des § 218 StGB, die sich auf den durch Dritte oder die Mutter vollzogenen Schwangerschaftsabbruch bezieht, nicht mehr anwendbar ist. Wären es daher im vorliegenden Fall nachweisbar Eröffnungswehen gewesen, im Rahmen derer V und R den Eingriff bei S vornahmen und schließlich das Kind töteten, so wären schon damit §§ 211 ff. StGB anwendbar gewesen.
b)Fraglich ist, ob sich zugunsten von R und V etwas anderes ergibt, wenn man davon ausgeht, dass es sich im vorliegenden Fall nicht bereits um Eröffnungswehen handelte, sondern um vorgelagerte Wehen (wie etwa Vor- oder Senkwehen), die R und V zum Anlass nahmen, plangemäß nach Öffnung der Gebärmutter den gesunden weiblichen Zwilling aus dem Mutterbauch zu holen und anschließend den verbliebenen schwer geschädigten weiblichen Zwilling durch Injektion von Kaliumchlorid im geöffneten Uterus zu töten. Fraglich ist insoweit, ob jedenfalls spätestens durch die Öffnung der Gebärmutter der strafrechtliche Lebensschutz der §§ 211 ff. StGB eröffnet war. Der BGH hat auch dies entgegen einiger Stimmen in der Literatur[17] zu Recht bejaht. Er sieht keinen Grund, bei einer Mehrlingsgeburt, bei der der erste Zwilling schon geborgen ist, hiervon abzuweichen. Insbesondere gibt es für den 5. Senat keine Veranlassung, den Zeitpunkt nach hinten auf die Vollendung der Geburt (also das Herausheben des Kindes aus dem Mutterbauch und Durchtrennen der Nabelschnur) zu legen. Tatsächlich wäre eine solche Verlegung des maßgeblichen Zeitpunkts auch wenig plausibel: Bereits mit der Öffnung des Uterus verliert das Kind seinen natürlichen Schutz der ihn umgebenden Gebärmutter. Auch nach dem Wortsinn würde man bei einem geöffneten Uterus nicht mehr von einer Fortdauer der Schwangerschaft sprechen. Der BGH sieht dabei, dass die moderne Medizin bereits fetalchirurgische Eingriffe ermöglicht, zu deren Zweck der Uterus geöffnet und anschließend wieder verschlossen wird, um die Schwangerschaft fortdauern zu lassen. Um dem daraus möglicherweise abzuleitenden Einwand zu begegnen, vertritt der BGH daher überzeugend eine objektiv-subjektive Bestimmung des Begriffs der Schwangerschaft. Diese liegt nur vor, wenn der Uterus noch geschlossen ist oder nach vorübergehender Öffnung wieder geschlossen werden soll. Das ist plausibel, weil auch bei einer beabsichtigten erneuten Schließung des Uterus von einer Beendigung der Schwangerschaft nicht gesprochen werden kann. Wird der Uterus dagegen zum Zwecke der Beendigung der Schwangerschaft geöffnet, dann ist dies der Zeitpunkt, in dem der Lebensschutz nach §§ 211 ff. StGB beginnt. Dafür spricht übrigens auch der biologische Aspekt, dass das Kind nach Öffnung des Uterus und noch vor Trennung der Nabelschnur zur selbstständigen Atmung fähig ist und eine Umkehr des Prozesses – vergleichbar dem Einsetzen der Eröffnungswehen – zumindest im Normalfall nicht mehr stattfindet.
c)Dabei handelten R und V auch mit Tötungsvorsatz. Es lag hier sogar dolus directus 1. Grades vor. R und V beabsichtigten die Tötung des Zwillings, um dem Wunsch der Mutter nachzukommen.
2. Rechtfertigung
Zu untersuchen ist, ob sich R und V auf Rechtfertigungsgründe berufen können.
a)Dabei scheidet eine Anwendung der §§ 32 und 34 StGB von vornherein aus:
aa)Zu dem Zeitpunkt, zu dem R und V das Kind töteten, bildete dieses für das bereits abgenabelte Zwillingsmädchen keine Gefahr mehr. Von einem Angriff im Sinne von § 32 StGB hätte man nicht einmal zuvor sprechen können, da die bloße risikobehaftete menschliche Existenz nicht als willentliche Rechtsgutsbedrohung verstanden werden kann, wie sie § 32 StGB voraussetzt.[18]
bb)Daher könnte ohnehin nur § 34 StGB einschlägig sein. Jedoch fehlte es (unabhängig von der Abwägbarkeit menschlichen Lebens) zum Tatzeitpunkt an einer noch gegenwärtigen Gefahr für den anderen Zwilling.
cc)Allenfalls könnte man von einer Gefahr für die Mutter sprechen, die offenbar mit dem schwer behinderten Kind nicht leben konnte. Insoweit käme als Rechtfertigungsgrund eine analoge Anwendung des § 218 II Nr. 1 StGB in Betracht. Jedoch trifft hier § 218a II Nr. 1 StGB die ausdrückliche Regelung, dass eine Rechtfertigung wegen medizinisch-sozialer Indikation[19] (i.S.e. mütterlichen Gefahr) nur bei noch bestehender Schwangerschaft in Frage kommt. Gerade diese ist aber mit Öffnung des Uterus bereits beendet gewesen (s. soeben). Der BGH hat daher zu Recht eine analoge Anwendung unter Hinweis auf den Ausnahmecharakter dieser Vorschrift verneint. Denn man würde den ab dem Zeitpunkt der Menschwerdung erhöhten strafgesetzlichen Schutz auf diese Weise relativieren, indem man den vorgeburtlich verminderten Schutz auf das nachgeburtliche Leben überträgt.
3. Schuld
Auch sind Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe nicht ersichtlich. Insbesondere ist auch ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB zu verneinen, da sich R und V bewusst über geltendes Recht hinwegsetzten.
4. Minder schwerer Fall des Totschlags nach § 213 StGB
Auf Strafzumessungsebene kommt allerdings eine Anwendung des § 213 StGB in Betracht. Tatsächlich hat das LG Berlin ohne Beanstandung durch den BGH einen solchen minder schweren Fall des Totschlags angenommen, indem es neben dem lange zurückliegenden Tatzeitpunkt und der fehlenden Vorbestrafungen berücksichtigte, dass R und V der S in ihrer schwierigen Situation nur helfen wollten und im Ergebnis den Zustand herstellten, der im Falle eines erlaubten selektiven Schwangerschaftsabbruchs eingetreten wäre. Aus alldem leitete das LG Berlin für den hier vorliegenden Totschlag nach § 212 StGB eine Anwendbarkeit des § 213 StGB ab und verurteilte R nur zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und V zu einer Freistrafe von einem Jahr und neun Monaten, die jeweils auf Bewährung ausgesetzt wurden, obgleich es die Tatsache, dass kein Notfall vorlag, sondern die Tat geplant war, straferschwerend berücksichtigte. Gerade Letzterem widerspricht der BGH aber zu Recht, da die Planung hier nicht Ausdruck einer kriminellen Energie, sondern der ärztlicherseits erforderlichen Operationsvorbereitung war und zudem das Fehlen von Milderungsgründen nicht erschwerend berücksichtigt werden dürfe.[20]
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