Die meisten Regierungen hatten im weiteren Laufe der Zeit versagt und waren durch Marionettenpolitiker ersetzt worden.
Die Menschen hatten keine wirkliche Wahl mehr, denn Wahlen wurden immer öfter manipuliert oder boykottiert. Die Drahtzieher waren die Führer bestimmter gut organisierter Gruppen.
Sie hatten ihre straff aufgebauten Organisationen über Jahrhunderte hinweg bewahren können, weil sie nicht zuletzt auch Meister in der Geheimhaltung und Verdunkelung waren. Tauchte einmal ein für das Volk verheißungsvoller Politiker auf, der nicht in die Machtinteressen eingebunden werden konnte, fand oder konstruierte man schnell etwas Anstößiges aus seiner Vergangenheit. Dies publizierte man dann in einer gewissen Weise und entledigte sich so seiner Person. War das nicht möglich, gab es ein Attentat als Endlösung.
Die Situation wurde so verzweifelt, dass immer mehr Menschen versuchten, mit irrsinnigen Attentaten auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Dadurch lieferten sie den Mächtigen erst recht Argumente, die Angst unter den Völkern zu schüren. Da bei den Anschlägen auch Frauen und Kinder getötet wurden, gesellte sich Wut zur Angst. Eine gefährliche Kombination.
Diejenigen, denen die Anschläge eigentlich galten, lebten perfekt abgeschirmt und blieben unbehelligt. Eine Handvoll Wissenschaftler, die sich im Geheimen treffen konnte, entwickelte eine Bombe, mit der es möglich sein sollte, ohne große Verluste an Leben technische Einrichtungen großflächig zu zerstören. Sie wollten die Gleichberechtigung der Völker wiederherstellen.
Die Wissenschaft selbst aber hatte die Probleme verursacht, die sie nun zu korrigieren versuchte. Ihr Größenwahn bestand darin, dass sie den Menschen versprach, alle Rätsel zu lösen und sie hatte für das meiste auch Erklärungen parat. Es existierte schon lange ein harter Konflikt mit den etablierten Religionen, der viele Menschenleben gekostet hatte - auf beiden Seiten. Die einen negierten Gott, die anderen behaupteten, sein verlängerter Arm und Sprachrohr zu sein. Beide irrten sich.
Anfang des 21. Jahrhunderts versicherte die Wissenschaft, das Geheimnis des Lebens, die DNA, entschlüsselt zu haben und belegte dies auch mit einem eindrucksvollen Ergebnis. In der DNA, einem doppelsträngigen, helikalen Makromolekül, war die gesamte Erbinformation eines Organismus codiert. Man hatte entdeckt, dass die Gene als Teil der Erbinformation für die Ausprägung einzelner Merkmale verantwortlich sind und es sich hierbei um einen Abschnitt auf der DNA handelt, der die genetische Information zur Synthese eines Proteins oder einer funktionellen RNA enthält.
Mit einer Kombination aus den vier Buchstaben A, C, G und U konnte man ihn darstellen. Der leistungsfähigste Computer der damaligen Zeit benötigte drei Jahre, um den Code restlos zu entschlüsseln. DNA und Gene waren nun kein Rätsel mehr und der Mensch begann, Gott zu spielen. Alles schien möglich zu sein. Biotech-Unternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden, denn hier war jetzt Geld zu machen. Zunächst sah es aus, als sei es ein Segen für die Menschheit, denn viele Krankheiten, auch Erbkrankheiten, konnten eliminiert werden. Eine weitere Folge der Genforschung war, dass Männer mit Männern, Frauen mit Frauen Kinder »zeugen« konnten. Man konnte sich für viel Geld sein »Wunschkind« bestellen. Noch einmal 50 Jahre später war Klonen gesellschaftsfähig geworden: Aus zwei sozialen wurden nun zwei genetische Schichten.
Das Wissen hatte die Weisheit schon seit langem verdrängt. Durch die Ausrottung vieler Krankheiten explodierte aber die Weltbevölkerung und was zunächst wie ein Segen ausgesehen hatte, wurde zu einer immensen Belastung. Im Jahre 2000 mussten schon drei Milliarden Menschen mehr versorgt werden als im Jahre 1970. Im Jahre 2010 noch einmal 500 Millionen mehr. Um diese Menschen ernähren zu können, mussten unter anderem riesige Regenwälder, die mächtigen Sauerstoffproduzenten, großen Agrarflächen weichen.
Die Erde wehrte sich wie ein erwachender Riese durch verheerende Beben apokalyptischen Ausmaßes gegen die Ausbeutung. Durch die Entnahme der riesigen Ölvorkommen und anderer Bodenschätze waren gigantische Hohlräume im Erdinneren entstanden, was zu Verschiebungen der Erdplatten führte. Jahrelange Atombombenversuche unter dem Meeresspiegel und im Erdinneren hatten zusätzlich dazu beigetragen.
Das alles hatte die Verschiebung der Erdachse um mehr als 20 Grad zur Folge. Dies wiederum zog weltweite Folgekatastrophen wie Orkane, Feuersbrünste, Überschwemmungen und Erdrutsche nach sich.
Die Mächtigen hatten diesen Planeten wie eine tote Masse behandelt, mit der man ungestraft machen konnte, was man wollte, und nicht wie einen lebendigen Organismus, so wie es die Naturvölker beispielsweise taten. Man hätte von ihnen lernen können. Jetzt erhielt man seine Lektion.
Mit Hilfe von Selbstmordkommandos war es schließlich gelungen, viele der neu entwickelten Bomben fast zeitgleich im damaligen China, Russland, in Europa, Asien und den USA in deren Nervenzentren zu zünden. Die Aktion wurde nicht zu dem Erfolg, den man sich gewünscht hatte, denn sie kostete wesentlich mehr Menschenleben, als beabsichtigt war. Die wichtigen Zentren waren zerstört.
Mit Bomben aber wurde noch nie Gerechtigkeit geschaffen, was man hätte wissen können, aber wohl übersehen hatte. Die Erde hatte nun Zeit, sich zu erholen, und die Überlebenden teilten und ordneten mit einem Ewigen Vertrag eine neue Welt, in der es jedem möglich sein sollte, nach seinen Vorstellungen in Frieden zu leben.
700 Jahre später, an einem Julimorgen des Jahres 2866, schickte die Sonne ihre ersten Strahlen fast waagerecht in den Wald von Elaine. Tau glitzerte, wie Diamanten an fein gewobenen Spinnennetzen aufgezogen, geheimnisvoll durch zarte Nebelschleier. Noch verschlafen zwitscherten die ersten Singvögel des großen Waldes, dessen älteste Bäume seit mehr als tausend Jahren hier wurzelten. Manche von ihnen waren hoch und stark wie Wehrtürme und so dicht belaubt, dass die Sonne nur in den Mittagsstunden bis zur Erde reichte. Riesige Farne, dichtes Unterholz und knorrige Baumhöhlen boten manchem Leben Schutz. Hin und wieder machten die Bäume einer Lichtung Platz, auf der ein kleiner See träumte - manchmal hinter hohem Schilf versteckt, auch ein idealer Platz für die Kinderstube der Wasservögel. Jetzt zogen sich die Wesen der Nacht zurück, manche satt von reichem Beutezug. Auch einige Baumelfen und Erdkobolde, verspätete Heimkehrer eines sommerlichen Waldfestes, huschten im Licht des anbrechenden Tages in ihre Behausungen.
Effel brauchte seine ganze Aufmerksamkeit, um nicht über eine der zahlreichen Wurzeln oder über Äste zu stolpern. Deswegen hatte er auch keinen Blick für die zierlichen Elfen in ihren Spinnwebkleidern oder die Kobolde mit ihren lustigen Kopfbedeckungen. Er hatte nämlich die Fähigkeit, sie zu sehen.
Die Nacht hatte er in einer mächtigen, hohlen Eiche verbracht. Das trockene Laub, das der Wind in ihrem Inneren gesammelt hatte, bot ihm ein weiches und warmes Ruhelager. Er war allerdings so müde gewesen, dass er auch auf unbequemerer Bettstatt geschlafen hätte, und er liebte es, in freier Natur zu übernachten. In der ersten Nacht seiner Reise hatte er, kaum dass er sich niedergelegt hatte, wie in tiefer Ohnmacht geschlafen und sehr lebhaft geträumt. So brauchte er jetzt etwas Zeit, in die Wirklichkeit zurückzufinden.
»Kein Wunder«, dachte er. Es war auch viel geschehen in den letzten Wochen seit Verkündung der schlimmen Nachrichten. Er musste Vorbereitungen treffen und dann hatte er seinen Rucksack mit allem Nötigen gepackt. Der Abschied von seiner Familie und seinen Freunden hatte sich lange hingezogen. Soko, dem Schmied, war sogar das Feuer fast ausgegangen, was ihm selten passiert war. Alle Dorfbewohner hatten sich auf dem Platz versammelt, um ihm Lebewohl zu sagen.
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