In China hat die Sehnsucht nach einer Erlösung von den Schrecken des menschlichen Daseins – Unglück, Krankheit und Tod – den Taoismus hervorgebracht. Die Entwicklung von Weisheit und die Erkenntnis vom Ursprung des Seins waren die Ziele der Schüler des taoistischen Meisters Laotse. Viel Zeit musste auf geistige Übungen verwendet werden, um die hohe geistige Reife zu erlangen, die diese Menschen anstrebten. Da sie der Wiedergeburt weniger Bedeutung beimaßen als der Buddhismus, der erst 500 n. Chr. nach China kam, war ihr höchstes Ziel, Unsterblichkeit oder zumindest ein hohes Lebensalter zu erreichen. Alle anderen Bedürfnisse wurden dieser Absicht untergeordnet. Ursprünglich diente das Streben nach einem langen Leben dem übergeordneten Ziel, auf die Erleuchtung hin zu arbeiten. Mit der Zeit allerdings entwickelte die Langlebensphilosophie eine Eigendynamik. Das Eigentliche, die Erleuchtung, trat in den Hintergrund. Das Erlangen eines hohen Alters in Gesundheit war zum Selbstzweck, zu einer fixen Idee der Chinesen geworden.
Unzählige Gesundheitsübungen meditativer und heilgymnastischer Art zeugen von diesen Bemühungen. Tai Qi Chuan ist eine der bekanntesten Methoden. Die anderen therapeutischen Mittel der TCM – die Akupunktur, die Kräuter- und Ernährungstherapie – und insbesondere die Diagnostik wurden von dieser Entwicklung entscheidend geprägt. Die Langlebensidee erzeugte einen hohen Anspruch an die diagnostischen Fähigkeiten der Ärzte mit dem Ziel, das Entstehen krankhafter Prozesse gar nicht erst zuzulassen. Dies ging einher mit einem umfassenden Wissen über die Ursachen von Krankheit.
Der medizinische Erfahrungsschatz wurde innerhalb der Arztfamilien als Geheimwissen bewahrt und vererbt. Diese Tradition, eine Folge der politischen und sozialen Struktur Chinas, diente zwar der Reinhaltung und der korrekten Überlieferung der Lehre, der medizinischen Versorgung des allgemeinen Volkes diente sie jedoch nicht.
Vorbeugen, das oberste Gebot der TCM, erfordert eine große Geschicklichkeit, was die Früherkennung von Funktionsstörungen anbelangt. Noch heute erlaubt die medizinische Diagnostik, Krankheiten oder, besser gesagt, ein Ungleichgewicht zu erkennen, bevor überhaupt ernsthafte Symptome aufgetreten sind. Durch das Betasten des Pulses am Handgelenk an sechs verschiedenen Stellen auf zwei Ebenen lassen sich genaue Aussagen über das Befinden der zwölf Organe und über die Gesamtkonstitution des Menschen machen. Das genaue Betrachten der Zunge – Farbe, Form, Feuchtigkeit und Beweglichkeit, ebenso Farbe und Art des Belages – ist ein weiteres bedeutendes diagnostisches Mittel. Das Bild wird vervollständigt durch das Befragen des Patienten und durch die Gesichts- und Körperdiagnostik. Das ist die praktische Vorgehensweise, die dem Einsatz therapeutischer Ernährungsratschläge zur Vorbeugung oder Behebung einer Erkrankung vorausgeht.
Das frühzeitige Erkennen von krankhaften Veränderungen setzt jedoch noch etwas anderes voraus: eine andere Sichtweise. Der Magen ist nicht erst krank, wenn er weh tut. Bevor Magenschmerzen auftreten, war der Krankheitsprozess bereits im Gang. Bevor es zu einem Herzinfarkt kommt, litt der Betroffene womöglich bereits seit geraumer Zeit unter Beschwerden. Wenn zum Beispiel Schlafstörungen oder innere Unruhe auftreten, dann könnte die Überforderung am Arbeitsplatz oder eine emotionale Belastung der Hintergrund sein. 60 % der deutschen Bevölkerung klagen über Symptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe, Übelkeit, Verstopfung, Übergewicht, Müdigkeit, Konzentrationsmangel und andere, sogenannte funktionelle Störungen. Gegen alle diese Probleme gibt es Medikamente. Nach dem eigentlichen Ursprung der Beschwerden fragt bei uns kaum jemand, und der Zusammenhang zwischen einem zunächst banalen Symptom und einer späteren ernsthaften Krankheit wird meist nicht erkannt. Die traditionelle chinesische Diagnostik vollbringt diesbezüglich keine Wunder. Sie fragt lediglich nach dem Ursprung und erkennt die Zusammenhänge. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, ist es wichtig, die chinesische Betrachtungsweise des menschlichen Körpers etwas genauer zu untersuchen.
Ungleichgewicht der Körperfunktionen
Was ist Gesundheit?
Leben basiert grundsätzlich auf zwei Komponenten: Energie und Substanz. Ist eine der beiden Komponenten übermäßig oder nur unzureichend vorhanden, dann ist der Mensch krank. Fehlt eine Komponente ganz, gibt es kein Leben. Tod bedeutet, dass Energie und Substanz sich voneinander trennen. Mit dieser Anschauung befinden wir uns bereits inmitten eines chinesischen Denksystems: im Yin-Yang-Modell.
Energie, von den Chinesen Qi genannt (»Tschi« gesprochen), hat Yang-Charakter wie alles Helle, Lichte, nach oben und nach außen Gerichtete, wie der Tag, die Sonne, das Männliche, das Aktive, das Nichtmaterielle, das Nichtsichtbare, das Nichtfassbare.
Substanz hat Yin-Charakter wie alles Dunkle, Schattige, nach unten und nach innen Gerichtete, wie die Nacht, der Mond, das Weibliche, das Bewahrende, das Materielle, das Sichtbare, das Fassbare.
Qi und Substanz sind wie Feuer und Wasser. Sie kontrollieren sich gegenseitig. Feuer kann Wasser verdampfen, und Wasser kann Feuer löschen. Das harmonische Zusammenspiel beider Pole sorgt im gesunden Organismus für eine ausgewogene Temperatur und Dynamik. Ungleichgewicht bedeutet in diesem Sinne: zu heiß oder zu kalt, zu trocken oder zu feucht, zu schnell oder zu langsam.
Im Sprachgebrauch der chinesischen Medizin wird der Yang-Faktor, Energie, immer Qi genannt. Für den Yin-Faktor sind die
Das Yin-Yang-Modell:
Yang ist das Qi, das Helle, der Tag,
die Sonne, das Männliche, das
Aktive, das Nichtmaterielle,
das Nichtsichtbare, das Nichtfaßbare.
Yin ist die Substanz, das Dunkle,
die Nacht, der Mond, das Weibliche,
das Bewahrende, das Materielle,
das Sichtbare, das Faßbare.
Begriffe Blut, Säfte und Substanz gebräuchlich, wenn es darum geht, die Polarität von Yin und Yang auf der Körperebene darzustellen. Manchmal spricht man von Qi und Blut und ein anderes Mal sagt man Qi und Säfte.
Das Yang des Körpers
Auf körperlicher Ebene bedeutet Yang, Qi und Wärme, und meint das, was den Organismus mit all seinen Funktionen am Leben erhält; alle Gefühle, Gedanken und alles Geistige sind ebenfalls darin enthalten. Zusammenfassend also: alles nicht Sichtbare, das zum Lebendigsein dazugehört. Die erste Stufe eines Mangels im Bereich des Yang wird als Qi-Mangel bezeichnet. Er drückt sich unter anderem durch Müdigkeit und Konzentrationsmangel aus. Ein Mangel an Qi und Wärme ist schlimmer als der Qi-Mangel und wird Yang-Mangel genannt. Er beinhaltet alle Symptome des Qi-Mangels und geht darüber hinaus mit Kälteempfindungen wie Frösteln und kalten Füßen sowie mit geistiger und körperlicher Erschöpfung einher. Einen Überschuss an Yang, eine sogenannte
Yang-Fülle, zeigt sich als Hitzeempfindung, rote Gesichtsfarbe, als Zornausbruch und übersteigerte Aktivität.
Wir haben es bei einem Ungleichgewicht entweder mit einer Fülle oder einem Mangel des Yang oder mit einem Mangel des Qi zu tun (eine Qi-Fülle gibt es nicht, da Qi immer etwas Positives ist). Im ersten Fall sagt die chinesische Medizin: »Das Yang ist in Fülle.« In den anderen Fällen heißt es: »Das Yang oder das Qi ist geschwächt.« Oder man sagt ganz allgemein: »Die Yang-Wurzel des Menschen ist gestört.«
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