Wichtige Vertreter der Naturheilkunde im Westen wussten um die ganzheitliche und energetische Wirkung der Nahrung, so Hildegard von Bingen oder Hippokrates. Für die Weiterentwicklung ihres Wissens und ihrer Erfahrungen blieb jedoch kein Raum. Die analysierende wissenschaftliche Forschung übernahm die Verantwortung für die Gesundheit des Menschen. Und während man sich hierbei auf immer mehr Details konzentrierte, ist die Energie – aus chinesischer Sicht das Qi – in der Nahrung verlorengegangen. Was wir heute wirklich brauchen, ist ein gesunder Menschenverstand, um die richtige Auswahl der Lebensmittel zu treffen. Die Bekömmlichkeit von Speisen hat höchste Priorität, wenn es um unser Wohlbefinden geht. Das erreichen wir mit heimischen, frischen Zutaten, sowie mit aromatischen Gewürzen und Kräutern. Vor allem intensive natürliche Aromen sind wichtig, denn sie aktivieren unseren Stoffwechsel und entschlacken den Organismus. Somit sorgen sie für einen klaren Kopf und eine gute Figur!
Die traditionelle chinesische Medizin und Ernährungslehre
Seit 3000 Jahren bedient sich die traditionelle chinesische Medizin (TCM) eines ganzheitlichen Ernährungssystems, um die Gesundheit des Menschen zu erhalten und Funktionsstörungen im Organismus zu beheben. Im Verlauf der vergangenen drei Jahrtausende hat dieses System zur Genüge den Beweis erbracht, dass es die Gesundheit bis ins hohe Alter tatsächlich bewahrt und unausgewogene körperliche Funktionen wieder ins Gleichgewicht bringt. Neben den therapeutischen Methoden der TCM – Akupunktur, Kräutertherapie und Heilgymnastik – spielt die traditionelle chinesische Ernährungslehre in China als vorbeugende Maßnahme die wichtigste Rolle – jedoch über einen langen Zeitraum nicht in der westlichen Welt.
Die ersten Westler, die sich im 16. Jahrhundert mit der Heilkunst in China konfrontiert sahen, waren Missionare, gefolgt von abenteuerlustigen Wissenschaftlern. Das spektakulärste Phänomen der chinesischen Medizin, das diese ersten Fernostreisenden zu sehen bekamen, war mit Sicherheit die Akupunktur. Jeder, der schon einmal ein Photo von einer Operation in einer chinesischen Klinik gesehen hat, kann den nachhaltigen Eindruck, den dieses Bild hinterlässt, leicht nachvollziehen. Während die Ärzte am geöffneten Körper des durch Akupunktur anästhesierten Patienten arbeiten, unterhält sich jener mit der OP-Schwester. Wen wundert es, dass in erster Linie die Akupunktur die Neugierde der westlichen Forscher erregte und den Fachbüchern der Akupunktur die erste Übersetzerarbeit galt. Dass dem Patienten spezielle Speisen verabreicht wurden oder die junge Mutter direkt nach der Geburt eine Hühnersuppe zu essen bekam, die 28 Tage lang vor sich hin geköchelt hatte, ist nicht sonderlich aufgefallen.
Eine weitere Ursache für die Unterbewertung der Ernährungstherapie gegenüber der Akupunktur ist folgende: Die Kirche und ebenso die Wissenschaft waren bis vor wenigen Jahren Domänen der Männer. Weder Missionaren noch Wissenschaftlern war die wunderbare Wirkung kräftiger Suppen und Kräutertees eine Erwähnung wert gewesen. Wie sollten also die Daheimgebliebenen davon erfahren haben? Es gibt da allerdings eine Ausnahme. Ein chinesisches Heilkraut, dessen Ruhm im Westen inzwischen weit verbreitet ist, hatte die Aufmerksamkeit der männlichen Reisenden erregt. Die Ginseng-Wurzel! Doch nicht etwa wegen ihrer potenzsteigernden Wirkung?
Kräuter- und Ernährungstherapie sind in China eng miteinander verwoben. Im Klinikalltag ebenso wie in privaten Küchen werden Heilkräuter oft zusammen mit den Speisen gekocht. So findet man häufig in einer Hühnersuppe die leicht bitter schmeckende Dangui-Wurzel. Hühnersuppe nährt und regt die Säfteproduktion des Körpers an. Dangui-Wurzel hat eine blutaufbauende Wirkung. Durch die Kombination von beiden wird aus einer einfachen Suppe eine köstliche Blutmedizin. Für die Chinesen ist es selbstverständlich, dass eine Speise nicht nur schmackhaft ist, sondern darüber hinaus eine gezielte gesundheitsfördernde Wirkung hat. Auf diese Weise erlangt die Kunst des Kochens einen sehr hohen Stellenwert.
Hierbei ist es wichtig, zwischen therapeutischer und alltäglicher Ernährung zu unterscheiden. Im Rahmen dieses Buches geht es darum, die allgemeinen Richtlinien zugänglich zu machen. Therapeutische Prinzipien können nur angewendet werden, wenn eine Diagnose, basierend auf dem Wissen der TCM, zugrunde liegt. Seit den Anfängen der chinesischen Ernährungslehre sind viele Touristen über die Chinesische Mauer gelaufen, und die Essgewohnheiten und Bedürfnisse der Chinesen haben sich geändert. Die Ernährungsprinzipien sind jedoch in vielen Familien, die in einer Gemeinschaft zusammenleben und in den kleinen Garküchen die gleichen geblieben, und werden tagtäglich mit Erfolg angewendet. Davon konnte ich mich während meines dreimonatigen Aufenthaltes im alten Teil der riesigen Stadt Chengdu 1997 noch überzeugen. Anhand dieser Tatsachen darf man mit Recht behaupten, dass die chinesische Ernährungslehre zu den erfolgreichsten und erprobtesten Ernährungssystemen gehört, die wir kennen. Es wäre eine große Bereicherung, wenn – neben den privaten Küchen, den Kantinen und Restaurants, vor allem unsere Krankenhäuser von dieser Ernährungsform inspiriert werden und profitieren können. Es geht ja nicht darum, chinesische Gerichte zu kochen, sondern darum, die Prinzipien der Fünf-Elemente-Lehre und des Yin und Yang für die heimische Küche anzuwenden. Diese lassen sich dann beliebig auf vertraute Gerichte aus anderen Ländern, wie etwa die Mittelmeerküche, übertragen.
Ist er Koch oder Arzt?
Ist dies eine Apotheke oder ein Restaurant?
Fisch, Fleisch, Gemüse, Frühlingszwiebel und Porree:
Köstliche Gerichte verbannen Tabletten und Pillen,
Nahrhafte Speisen sind das Mittel gegen alle Leiden.
Chinesisches Gedicht, Herkunft unbekannt
Die Langlebensphilosophie der Chinesen
Der vergebliche Versuch, aus unedler Materie das edle Metall Gold zu gewinnen, ist nur ein Beispiel für das Streben nach technischem Fortschritt im Westen, das den Werdegang unserer Zivilisation entscheidend geprägt hat. In China war es das Streben nach Unsterblichkeit oder zumindest nach einem recht langen Leben, das eine Fülle kultureller Errungenschaften, darunter die TCM und mit ihr die Diätetik, hervorbrachte. Diese Entwicklung verdankt China dem Taoismus, der seine Erkenntnisse aus der Beobachtung der Natur und aus dem Verstehen kosmischer Zusammenhänge gewinnt.
Eines der Hauptthemen im Taoismus ist die Lehre von den Wandlungen. Sie besagt, dass es im gesamten Kosmos keinen statischen Zustand gibt; alles ist ständig in Bewegung. Wenn uns ein Zustand statisch erscheint, liegt dies lediglich daran, dass der Entstehungs- oder Zerfallsprozess so langsam vonstatten geht, dass wir ihn nicht wahrnehmen können. Wenn wir ein paar Jahre lang einen Stein oder ein Gebirge beobachten, dann erscheinen diese statisch, es gibt keine sichtbare Veränderung. Nach einem viel größeren Zeitraum jedoch könnten wir eine Veränderung deutlich sehen. Die Natur »denkt« hierbei nicht in Jahren, sondern in Jahrmillionen.
Wir Menschen sind ebenfalls einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen, und was die Zukunft bringen wird, ist im Grunde genommen ungewiss. Um dieser existentiellen Unsicherheit zu entgehen, haben die Menschen versucht, die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Veränderungen vollziehen, zu erkennen. Wenn man versteht, wie etwas geschieht, wird es vorhersehbar, kalkulierbar und verliert seinen Schrecken. Die Angst vor dem Ungewissen im menschlichen Dasein ist ein wichtiger Motor, der Philosophien, Religionen, Kultur und technischen Fortschritt hervorbringt.
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