Nicola König
Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive
Geschichte – empirische Untersuchungen – Unterrichtspraxis
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ISBN 978-3-8233-8470-0 (Print)
ISBN 978-3-8233-0268-1 (ePub)
Die 2012 durch die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (BS AHR) im Fach Deutsch vorgenommene Einführung des materialgestützten Schreibens als neuem verbindlichen Aufgabenformat des Abiturs (s. Abb. 1) markiert einen „Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik im Sinne von „outcome-Orientierung“ Rechenschaftslegung und Sytemmonitoring“.1 Folgt man Becker-Mrotzeks Einschätzung, dass Bildungsstandards das „zentrale bildungspolitische Instrument [sind], das die normativen Erwartungen der Gesellschaft an die Fähigkeiten der nachfolgenden Generation in Bezug auf bestimmte thematisch-inhaltliche Anforderungen verbindlich beschreibt“,2 dann stellt sich die Frage nach den Ursachen gleichermaßen wie den Intentionen der Einführung eines neuen Aufgabenformats.
Die Implementierung des materialgestützten Schreibens in allen sechzehn Bundesländern stellt die an Schule Beteiligten vor große Herausforderungen. Dies liegt nicht nur im Aufgabenformat selbst begründet, sondern auch in dem Umstand, dass die Bildungsstandards zwar eine Angleichung der Leistungsunterschiede intendieren, nicht aber methodische oder curriculare Vorgaben machen. Die Bildungsstandards bilden dabei einen verbindlichen Orientierungsrahmen und jede Schule ist dazu verpflichtet, die Regelstandards umzusetzen. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Herausforderungen aus literaturdidaktischer Perspektive in den Blick zu nehmen und Umsetzungsvorschläge aufzuzeigen. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist dabei dreigeteilt: Wenn die zentrale Änderung in den BS AHR die Einführung eines neuen Aufgabenformats markiert, dann gilt es zunächst, die Defizite zu rekonstruieren, die zur Einführung des Formats geführt haben. Becker-Mrotzek, fachdidaktischer Berater der Arbeitsgruppe, die mit der Entwicklung der Bildungsstandards betraut war, nennt als entscheidende Herausforderungen des materialgestützten Schreibens die Anbahnung eines propädeutischen Wissens, die Vermittlung der Argumentationsfähigkeit sowie der Schreibkompetenz.3 Diese decken sich mit den übergeordneten Zielen der BS AHR Deutsch, in denen die Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung, die allgemeine Studierfähigkeit sowie die wissenschaftspropädeutische Bildung4 angeführt werden. Diese Arbeit folgt Becker-Mrotzeks eindringlicher Forderung, dass das Schreiben in den Unterricht zurückgeholt werden muss, und versucht eine Beurteilung der Notwendigkeit dieser Forderung aus historischer (Teil I), aus schreibdidaktischer (Teil II) und aus praxeologischer Perspektive (Teil III).
Können Aufgabenformate als Überprüfung der Bildungsstandards verstanden werden, so bilden die illustrierenden Prüfungs- und Lernaufgaben ihre Konkretisierung. Die Merkmale und daraus resultierenden Herausforderungen des Aufgabenformats sollen anhand einer konkreten Beispielsaufgabe des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das mit der wissenschaftlichen Betreuung und der Umsetzung der Bildungsstandards betraut ist, erläutert werden.5 Die BS AHR sind in fünf Kompetenzbereiche gegliedert,6 die prozess- und domänenspezifischen Kompetenzbereiche. Das Schreiben als prozessbezogene Kompetenz wird anhand der domänenspezifischen Bereiche – sich „mit Texten und Medien auseinandersetzen“ sowie „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“7 – konkretisiert. Hier wird die Verzahnung deutlich, die eine literaturdidaktische gleichermaßen wie eine sprachdidaktische Perspektivierung auf das Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens erforderlich macht.
Abb. 1:
BS AHR (2012), S.24
Die Aufgaben der beiden Ausprägungsarten des materialgestützten Schreibens – das Verfassen informierender und argumentierender Texte – werden demnach immer zu domänenspezifischen Themen gestellt. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf dem argumentierenden Schreiben: Dies ist darin begründet, dass eine Progression vom informierenden zum argumentierenden Schreiben angenommen wird, die sich auch in den veröffentlichten Unterrichtsmodellen widerspiegelt.8 Auch in Bezug auf die Domänenspezifik lässt sich eine Weiterentwicklung beobachten. Während in der Mittelstufe Beispielsaufgaben noch fächerübergreifende Themen behandeln, wird erst in der Oberstufe die Domänenspezifik durchgehend berücksichtigt. Die Konzentration auf das argumentierende Schreiben ist aber auch im Hinblick auf die Aspekte des Problemlösens und der Propädeutik, die eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der BS AHR spielen, wichtig: „Besonderes Gewicht erhält die Entwicklung der Argumentations- und Reflexionsfähigkeit in Bezug auf die Bereiche des Faches und in fächerübergreifenden Kontexten“9. Das Erlernen des Argumentierens und Positionierens stellt eine zentrale Herausforderung für die Entwicklung der Schreibkompetenz, aber auch für den Umgang mit Literatur dar, die nicht erst in der oberen Mittelstufe in den Blick genommen werden darf.
Die folgende Beispielsaufgabe mit erhöhtem Niveau ist dem Aufgabenpool der Länder entnommen und dem argumentierenden Typ zugeordnet.
Die Intendantin des städtischen Theaters hat in einem Interview mit der lokalen Tageszeitung Bedenken geäußert, „Kabale und Liebe“ auf den Spielplan zu setzen. Dabei bezog sie sich auf kritische Diskussionsbeiträge, wonach das Stück nicht mehr zeitgemäß sei. Ihr Deutschkurs, der Schillers Drama im Unterricht behandelt hat, will sich hierzu in einem Offenen Brief an die Intendantin äußern.
Verfassen Sie auf Grundlage der Materialien M1 bis M9 und Ihrer fachlichen Kenntnisse einen Offenen Brief (siehe dazu M10), der begründet darlegt, inwieweit es auch im 21. Jahrhundert sinnvoll ist, „Kabale und Liebe“ für die Bühne zu inszenieren.1
Die Schüler:innen werden aufgefordert, sich mit der Frage der Aktualität des Dramas Kabale und Liebe zu beschäftigen, indem sie – als Mitglied des Deutschkurses – an die Intendantin des Theaters einen Offenen Brief schreiben. Damit werden in der Aufgabenstellung Zieltext – der Offene Brief – und Situierung – Stellungnahme des Deutschkurses zur Debatte – vorgegeben. Die für den Aufgabentyp des materialgestützten Schreibens typische Adressierung bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen der genannten Adressatin – der Intendantin – und den eigentlichen Adressat:innen – den Leser:innen des Mediums, in dem der Offene Brief veröffentlicht werden soll. Zum Verfassen des Zieltextes erhalten die Schreibenden elf Materialien mit insgesamt 1659 Wörtern. Darin sind acht lineare pragmatische Texte, zwei Abbildungen und eine Tabelle enthalten.2
Dieses Beispiel veranschaulicht die Grundgedanken des neuen Aufgabenformats: Neben den textgebundenen Aufgaben der Erörterung, Interpretation und Analyse rücken damit Aufgaben ins Zentrum, „die keine vollständige Textanalyse mehr erfordern, da das vorgelegte Material auf der Grundlage von Rezeption und kritischer Sichtung für eigene Schreibziele genutzt werden soll (Materialgestütztes Schreiben).
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