Der Skorpion zuckt zusammen, greift an, stutzt, will fliehen. Das gläserne Gefängnis ist eine Falle, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nachdem er sich ein paar Mal um die eigene Achse gedreht und mit seinen Scheren die Glaswände abgetastet hat, verharrt er in der Mitte seines Gefängnisses. Zwei, drei, vielleicht fünf Sekunden bleibt er stehen, erstarrt in einer eigenartigen Anspannung von Ratlosigkeit und Vorsicht. Dann wölbt er seinen stachelbewehrten Schwanz über seinen Leib, langsam und zögernd, verharrt einen letzten Augenblick und ersticht sich selbst.
Alice erschrickt. Zwei Angestellte des Hotels schleppen die leeren Bierkisten aus dem Getränkelager hinter der Küche in ein Motorboot am Strand. Das Geschepper der leeren Flaschen in den Kästen stört die morgendliche Ruhe, so daß Alice ans Geländer der Terrasse eilt, und ihre Angestellten bittet -- sie ruft die beiden ‹Sünder› beim Namen -- sie sollten leiser sein.
Alice ärgert sich. Sie glaubt zu wissen, daß sie ein gutes Arbeitsklima haben, die Kompetenzen sind klar, ihre Löhne anständig. Umso weniger versteht sie, warum solche Kleinigkeiten, die sie den Leuten schon hundertmal gesagt hat, nicht befolgt werden. Vor allem da sie und Mettler sich bemühen, nicht die Unerreichbaren zu spielen. Im Gegenteil, sie pflegen ein geradezu kameradschaftliches Verhältnis zu ihren Angestellten, von denen sie die meisten schon von früher kennt. Aber das Rafiki ist ein Hotel. Die Gäste sind hier, um sich zu erholen. Sie und Mettler, aber auch ihre Angestellten, haben sich nach den Wünschen der Kunden zu richten und nicht umgekehrt.
Zu keiner Tageszeit vermißt sie Mettler so sehr wie jetzt. Normalerweise bringt ihr Mettler, der vor ihr aufsteht, Kaffee kocht und die Zeitungen holt, eine Tasse ans Bett und legt sich noch ein bißchen zu ihr. Sie besprechen die anfallenden Arbeiten des Tages oder sorgen sich um ihren Sohn Ali. Mettler und Ali verstehen sich nicht gut. Ali ist ohne Vater aufgewachsen, läßt sich von Mettler nichts sagen; Mettler möchte Ali helfen, aber weiß nicht wie. Zur Zeit besucht Ali in der Schweiz ein Internat, damit er später in Luzern oder Lausanne an die Hotelfachschule gehen kann, aber die Briefe, die sie aus der Schweiz erhalten, geben wenig Anlaß zu derart hochfliegenden Plänen.
Oft nützen sie die ruhigen Stunden -- wenn nicht gerade Bierkästen verladen werden -- um einander zu verführen, gehen auf Entdeckungsreisen, wie Mettler ihre Liebkosungen nennt. Ein Kindskopf. Und hätte sie nicht die Erfahrung gemacht, daß er sich immer wieder an denselben Überraschungen freut, sie müßte verzweifeln. Oder war das gockelhafte Gehabe, mit dem Mettler sich vor Jill aufspielte, waren seine dümmlichen und gestelzten Schmeicheleien, schon Zeichen der Erschöpfung? War Jills Ironie, mit der sie Mettler behandelte, ein Versuch, sie zu täuschen? Sie kennt das. Weiße Frauen.
Die ‹rote Gazelle›, wie sie Jill heimlich nannte, versteckte sich für ihr Gefühl ein bißchen allzu fadenscheinig hinter einer Süffisanz, die nur schlecht verbarg, was sie von Männern erwartete.
Warum kamen Jill und Wipf nach ihrem Safaridebakel überhaupt noch nach Lamu? Die Beziehung Jills zu Fredi Wipf hielt sie nie für besonders glücklich. Benutzte die Parker Mettler, um sich von Wipf zu lösen? Als Mettler sich schließlich nicht entblödete, Jill auf der Hotelterrasse vor den Gästen den Hof zu machen, gab sie ihm den Ratschlag, er sollte sich die Parker, nachdem er sich so lange vor ihr aufgeplustert hatte, endlich nehmen. Mettler verstrickte sich in eine Flut geschwätziger Erklärungen, die beweisen sollten, daß er dies ja gar nicht wollte. Alice verstand ihn nicht.
Vor gut zwei Monaten tauchte Wipf mit dem Surflehrer Teddy Huber in Lamu auf. Der schneidige Schweizer eroberte Jill in wenigen Tagen, und Alice wunderte sich nicht, als es gerüchtweise hieß, Jill und Teddy würden heiraten. Mettler spielte den Gleichgültigen, Wipf schien einmal mehr getroffen.
Umso weniger versteht sie nun, weshalb Jills Verschwinden Mettler derart aus der Fassung bringt.
Der Holzpfahl Punkt 81 mit den verwitterten Straßenschildern, mitten in einem unberührten Niemandsland, ist ein geradezu grotesker Anblick. Punkt 81. Doch würden die ausgebleichten Wegweiser nicht auf die Straßenkreuzung aufmerksam machen, man würde den Buschpfad vom Hammerkop garden zur Ford Ura Sand river, der hier die etwas breitere Straße Ura gate -- Kiriyaga Lodge kreuzt, kaum entdecken. Nur wer den Park kennt, wird in den schmalen Pfad einbiegen, der von kleinen, weißrosa Blüten -- Papierblumen -- übersät ist, und von dem zu befürchten ist, daß er schon nach wenigen hundert Metern einfach ausgeht, sich im Kraut und Gestrüpp verliert.
Da der Umweg um die Sümpfe weit beschwerlicher war, als Mettler und Tetu angenommen hatten -- die Straße vom Ura Swamp Camp durch den südlichen Zipfel der Sümpfe zum Ura Parktor war in einem schlechten Zustand, da sie offenbar wegen der letzten Überfälle der Wilderer weder benutzt noch gepflegt worden war -- erreichten sie Punkt 81, gut eine Stunde nachdem sie den Funkruf eingefangen hatten.
Mettler und Tetu entdecken eine frische Spur durch die Papierblümchen in Richtung Ura Sand River, und, wider Erwarten, wird die Straße hinter dem Abbruch in die Senke besser. Zwei gut sichtbare Spurrinnen fallen in sanften Schwüngen vom Hochplateau ins Tal, in dem ein schmaler aber kräftiger Baumbestand den Verlauf des Ura Sand Rivers anzeigt. Mächtige, dunkelgrün leuchtende Feigenbäume, dichte Gruppen wilder Dattelpalmen ragen aus dem niederen Gestrüpp des Ufers oder unterbrechen die lichten Wälder der Fieberakazien, Musinen und Zedern, die sich in die Ebene tasten, in der sonst kaum noch Bäume wachsen. Da und dort ein Baobab, eine Kandelabereuphorbie, die auf einem Termitenhügel thront.
Schon von weitem erblicken sie den rot-gelb leuchtenden Ballon der Kiriyaga Lodge, auch einen graubraunen Landrover, und im Ufergebüsch, rotweiß, Jill Parkers Mietfahrzeug. Leute, Männer, die zwischen Landrover und Uferböschung hin- und herlaufen.
«Diese Idioten!»
schimpft Tetu: «Sie machen alles kaputt. -- Hup, hup! Damit die Kerle da unten mit ihrem Humbug aufhören.»
Die krächzende Hupe von Mbilas Landrover unterbricht die Tätigkeit der Männer am Fluß, die nun ihrerseits den Landrover sehen, der, eine gewaltige Staubfahne hinter sich herziehend, den Abhang herunterpoltert, vom Weg abweicht und durch die Steppe auf die Unfallstelle zuschießt. -- Mettler und Tetu springen aus dem Wagen. Tetu schreit: «Was zum Teufel machen Sie da? Hören Sie sofort mit dem verdammten Unsinn auf.»
Und Mettler, nicht weniger aufgeregt, brüllt: «Jill! Wo ist sie? Habt ihr Jill gefunden?»
Die Männer am Ufer haben eine freundlichere Begrüßung erwartet.
«Pole, pole!»
versucht Joseph Mbila, der Manager der Kiriyaga Lodge, das seines Erachtens unangebrachte Geschrei zu dämpfen: «Immer mit der Ruhe. Vielleicht bedankt ihr euch erst einmal bei den Entdeckern von Jill Parkers Wagen. Bei unserem Piloten, Mister Kapur Singh. Und bei Mister Huber aus Mombasa.»
«Bei Huber? Teddy Huber, dem Surflehrer ...»
Mettler und Tetu schauen sich verdutzt nach den Leuten um.
«So ist es, meine Herren. -- Wenn ich denn einmal vorstellen darf, Mister Huber, der Bekannte von Miss Parker. Gestern Abend, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid, tauchte Mister Huber in der Lodge auf und verlangte, daß er und Singh in unserem Ballon solange über dem Park schweben, bis die Forscherin gefunden sei. Daß sie gleich bei Ihrer ersten Fahrt wenigstens den Wagen entdeckten, hätte keiner von uns für möglich gehalten. -- Mister Peter Hunt, der Ornithologe unsrer Lodge ...», Mbila zeigt auf einen hochgewachsenen, knochigen Weißen, der eine knappe, steife Verbeugung andeutet, «... Mister Hunt und ich begleiteten den Flug am Boden. -- Ich bin ja froh, daß Ihr unseren Funkruf empfangen habt, auch wenn eine Antwort auf dem alten Ding offensichtlich nicht mehr möglich war, aber ...»
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