Heute, am 5. April fehlt von der vermißten Forscherin Jill Parker nach wie vor jede Spur.»
Ein kühler Nachtwind aus den Bergen streicht durch die Wipfel der Akazien. Die Zweige des Löwenohrs, die einzigen Büsche, die Mettler kennt, wahrscheinlich nur wegen ihres seltsamen Namens, stachelige Blütenquirlen, die wie Bälle aussehen und in gleichmäßigen Abständen längs der Stengel aufgereiht sind, wiegen sich im Wind, vom Schein des Feuers begleitet. Es riecht würzig nach sonnengetrockneten Kräutern, nach Harz und dürrem Holz, Regen, feuchtem Staub ... Gerüche, wie sie für den Busch, die Sümpfe während der Nacht so typisch sind, und die Mettler zufrieden und glücklich machen; oder sind es der Whisky, der erste des Tages, die Pfeife und das Flackern des Feuers?
In der Luft summen Insektenschwärme. Um die Kronen der Fieberbäume jagen streitend ein paar Fliegende Hunde, auch den seltenen Gesang eines Ziegenmelkers glaubt Mettler zu hören, und hinter dem Duschhäuschen hustet ein Pavian. Aus der Ferne dringt das Quaken der Frösche, ein mehrstimmiges Knarren und Zirpen, der leiernde Atem des nahegelegenen Sumpfes. In der Steppe schreien Zebras, heulen Schakale oder Hyänen -- oder sind es die Brunstrufe eines Nilpferds?
Mettler weiß es nicht. Er kennt die Stimmen der Tiere nicht, deren Schnauben oder heiseres Grunzen ihn mitunter so nahe dünkt, daß er erschrickt. -- Und Tetu schläft.
Mettler steht auf, um neues Holz in die Glut zu legen, als ein Schuß durch die Nacht kracht. Hinter den Sümpfen blenden ein halbes Dutzend Scheinwerfer auf. Weitere Schüsse, kurz darauf das erste Stottern eines Maschinengewehrs. Wilderer. Mettler tritt das Feuer aus, reißt den schlafenden Tetu von seinem Hocker und rollt mit ihm ins nahe Gestrüpp.
Zu keiner Zeit ist die Nacht so still, so finster und abweisend wie kurz vor der ersten Dämmerung. Der Mond ist untergegangen, die Luft ist kalt und feucht, die Winde haben sich beruhigt, und der Himmel bezieht sich mit einem feinen Wolkenschleier, der die Sterne verblassen läßt.
Der Elefantenbulle steht bei einer gut meterhohen Sasimua. Er tastet mit seinem Rüssel den Strauch ab. Er wühlt durch die kurzen Blätter, rollt den Rüssel um die untersten Äste und tritt mit einem Vorderbein die Staude aus dem Boden. Mit dem Rüssel schlägt er nun den Busch gegen seine Knie, befreit die Wurzeln von Erde und Staub und schwingt sich das Futter ins Maul.
Während die alten Backenzähne die Sasimua zermalmen und sich alles, was er nicht verdauen kann, seitwärts aus dem Maul schiebt, greift der Rüssel bereits ins Geäst einer Bleistiftzeder, die nur wenige Schritte neben dem Johanniskrautbusch wächst. Ein alter, zerzauster Baum, der schon einige Elefantenbesuche überstanden hat. Der Rüssel legt sich um einen gesunden Leitast, biegt ihn zur Seite und knickt ihn entzwei. Geschickt wickelt der Elefant seinen Rüssel um das feinere Astwerk und streift die nadelähnlichen Blätter von den Zweigen und führt ein Büschel nach dem anderen ins Maul. Doch nur wenige Minuten später greift er zum nächsten Ast, den er zu Boden reißt, und nachdem er auch diesen leer gefressen hat, bricht er dem Baum die Krone.
Alice schläft nicht gut. Unruhig wälzt sie sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere, verheddert sich in Bettlaken und Moskitonetz, bis sie schließlich verärgert aufsteht. Seit sie mit Mettler zusammen ist, schläft sie nicht mehr gern allein. Sie will sich auf der Terrasse an die frische Luft setzen, und, ohne Licht zu machen, sucht sie nach einer Kanga, einem leichten Baumwolltuch, in das sie sich einwickelt. Im Spiegel erhascht sie ihr nacktes Abbild und stellt amüsiert und befriedigt fest, daß ihre Angst, sie sei zu dünn geworden, sich nicht bestätigt. Sie streckt sich und mit einer koketten Drehung, sich mit beiden Händen über Bauch und Hüften streichend, geht sie auf die Terrasse hinaus.
Hier ist die Temperatur tatsächlich angenehmer. Vom Meer her weht ein strenger Wind, der Alice für einen kurzen Moment sogar frösteln läßt.
Ob Mettler und Tetu jetzt wohl in dem Zelt liegen, das er sich von Mbila leihen wollte? Irgendwo im Busch, am Fuß des Kiriyagas, gut 400 Kilometer von ihr entfernt? Ob er sie wohl ebenso vermißt wie sie ihn?
Alice erinnert sich an ihre Safari mit Mettler, die einzige, die sie je zusammen gemacht haben. Der Schweizer Fredi Wipf hatte sie eingeladen. Wipf und Jill Parker. Die sportlich schlanke Elefantenforscherin.
Wipf besitzt ein kleines Reiseunternehmen, eigentlich nur einen umgebauten Lastwagen, mit dem er quer durch Kenias Nationalpärke fährt, eine Handvoll tollkühner Touristen auf der Ladebrücke, die nach Abenteuern lechzen, je beschwerlicher, desto aufregender, ein dummdreister Haufen, der sich einbildet, diese Art zu reisen, entspreche dem Leben der Nomaden.
Eine Art Hochzeitsreise sollte es werden. Du liebe Zeit. Nachts krabbelten sie in ein Zelt und wickelten sich in Schlafsäcke, in denen sie sich nicht bewegen konnten. Sie lagen beieinander, ohne einander zu spüren, und um zu zweit in einen Sack zu kriechen, waren diese zu klein, oder sie beide zu dick. Jedes Hoteli längs der Straße hätte ihnen einen süßeren Honeymoon beschert. Tagwache um fünf Uhr morgens, Frühpirsch, Essen fassen, Morgen-, Mittag-, Abendpirsch, immer hinter irgendwelchem Großwild her. ‹the big fives›; Büffel, Elefant, Leopard, Löwe und Rhinozeros. Sie langweilte sich entsetzlich, und für Mettler war die Reise eine Tortur. Fredi Wipf benutzte seine Touristen als Statisten für seine Abenteuer, als Publikum, das seinen Heldentaten applaudierte. Jeden Abend saßen sie im Kreis begeisterter Safarifreunde und sangen Lieder, die Mettler auf ihren Wunsch widerwillig übersetzte. Soldaten- und Studentenlieder aus Europa. ‹Auf, auf! Zum fröhlichen Jagen!› oder ‹Wie oft sind wir geschritten auf schmalem Negerpfad ...›
Auch sie besuchten damals das Ura Swamp Camp, in dem Jill Parker mit Teddy Huber war. Alice kichert leise vor sich hin. Ja, das war der erste Abend, an dem es zum Krach zwischen Wipf und Mettler kam.
Sie saßen um das berühmte Lagerfeuer, Wipf spann sein Jägerlatein, als plötzlich ein Mann aus dem Busch auftauchte, der sie anschrie, ob sie alle taub seien, ein Elefant habe sein Zelt, in dem er und seine Frau bereits geschlafen hätten, niedergetrampelt, die Fenster seines Landrovers eingedrückt und den Wagen umgeworfen. Unter Wipfs Anleitung stellten sie den Landrover wieder auf die Räder, derweil der ausgehungerte Elefant den Proviant einer weiteren Reisegruppe vom Autodach fegte. Die Leute kletterten auf den Wasserturm und schrieen um Hilfe. -- Eine Sternstunde für den Safarihelden Fredi Wipf. Nachdem er den Reiseleiter der Konkurrenz bloß gestellt hatte, demonstrierte er, wie der ‹Jäger› eine solche Situation meistert. Er setzte sich ans Steuer seines Geländewagens und fuhr laut hupend auf den Elefanten los. Der Elefant rannte davon. Aber Wipf nahm die Verfolgung auf, er raste hinter dem Elefanten her und fuhr ihm gegen die Hinterbeine. Mehrmals. Und obwohl sich der Elefant längst in die offene Steppe zu retten versuchte, brach Wipf seine Jagd nicht ab.
Die Touristen platzten fast vor Bewunderung, nur Jill und Mettler waren außer sich. Als Wipf triumphierend wieder ins Zeltlager stelzte, schrie Mettler ihn an, mit einem Auto auf einen Elefanten los zu donnern, sei dumm, gefährlich und gemein, schon morgen drehe der Elefant den Spieß um und renne den erstbesten Safaribus über den Haufen. Wipf lachte nur. Dann spottete er, man dürfe sich von einem Elefanten nicht alles gefallen lassen. Die Kerle würden sehr schnell begreifen, wer der Stärkere sei. Der Rotzlöffel, den er in den Busch gejagt habe, greife kein Auto mehr an. Im Gegenteil. Der Lümmel wisse, und werde es sein ganzes Leben lang nicht vergessen, daß sich 140 PS mit einem Elefanten durchaus messen könnten. Zu seinem Glück. Im anderen Fall würde er nämlich abgeknallt, von der Parkverwaltung und auf Drängen der Touristen, da die Tierliebe gewisser Damen und Herren ja bekanntlich dort aufhöre, wo die Angst beginne, und man in die Hosen scheiße. -- Er redete und redete. Jill und Mettler sagten nichts mehr.
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