Literatur und Mehrsprachigkeit
Ein Handbuch
Till Dembeck / Rolf Parr
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0045-8
Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung
Till Dembeck und Rolf Parr
a) Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung
In der internationalen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Mehrsprachigkeit in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Ein Stück weit schließen die Philologien damit an eine Entwicklung an, die in der Linguistik, vor allem in der Soziolinguistik, und in den Erziehungswissenschaften schon länger Fahrt aufgenommen hat und die vor allem aus dem Gebiet, in dem sich beide Disziplinen überschneiden, nämlich in der sog. Fremdsprachendidaktik (die aber teils nicht mehr so heißen will), nicht mehr wegzudenken ist. Mit Blick darauf ist unlängst bereits der unvermeidliche ›Turn‹ konstatiert worden.1Sugiharto, Setiono Von einem Mehrsprachigkeits-Turn zu sprechen wäre mit Blick auf die Philologien jedoch stark übertrieben: ›Literarische Mehrsprachigkeit‹ ist weit entfernt davon, als eigenes Forschungsgebiet neben den Nationalphilologien anerkannt zu werden.
Mit der wie auch immer zögerlichen Hinwendung zu Fragen der Mehrsprachigkeit reagieren die Literaturwissenschaften unter anderem auf eine Neuausrichtung, die auch andere Forschungsfelder der Disziplin betrifft: auf die Anreicherung philologischer Forschung um vormals der Linguistik vorbehaltene Beschreibungsmodelle und auf die Überschreitung nationalphilologischer Eingrenzungen. Die Literaturwissenschaften jenseits der Nationalphilologien haben das Paradigma der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ längst hinter sich gelassen und operieren mit Begriffen wie Inter- und Transkulturalität, Hybridität und anderen mehr. Demgegenüber ist der Einfluss der Linguistik auf die Literaturwissenschaften ungleich weniger gut sichtbar. Er artikuliert sich beispielsweise in einem vorsichtig erwachenden neuen Bewusstsein für die sprachliche Formanalyse (von Lyrik wie von Erzähltexten).
Alles in allem lassen sich mindestens drei gute Gründe dafür anführen, die erwachende Konjunktur literaturwissenschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung zu begrüßen: Erstens verspricht die Beschäftigung mit und die Analyse von Mehrsprachigkeit und insbesondere mehrsprachiger Literatur allen, die sich für Fragen der Inter- und Transkulturalität sowie der Migration interessieren, einen wichtigen Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultureller und auch sozialer Differenz. Zweitens kommen mehrsprachige literarische Texte dem neu erstarkten Interesse an der sprachlichen Struktur der literarischen Textualität entgegen. Damit stellen sie auch eine Herausforderung an die philologischen Arbeitsinstrumente dar, die sich zunehmend linguistischer Konzepte und Terminologien bedienen bzw. diese sogar adaptieren müssen, um ihren Gegenständen gerecht zu werden. Drittens schließlich bietet Mehrsprachigkeit die Möglichkeit, die Einschränkungen der nationalphilologischen Betrachtungsweise zu überwinden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um ›Weltliteratur‹ und die sich wandelnde Rolle der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ reizvoll.
Das Handbuch will allen drei Perspektiven auf den Gegenstand ›Mehrsprachige Literatur‹ gerecht werden und deren fachpolitische Konsequenzen ausloten. Neuere Diskussionen haben nämlich gezeigt, dass sich das Forschungsfeld ›Mehrsprachige Literatur‹ keineswegs über die Sammlung ihrer Gegenstände konstituieren lässt, denn dann findet sich kaum noch eine Möglichkeit zur Eingrenzung. Das liegt nicht nur daran, dass – welthistorisch betrachtet – keinesfalls Einsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit den Normalfall menschlicher Kommunikation darstellt; hinzu kommt nämlich, dass es letztlich definitorisch kaum möglich ist, zu sagen, was ein einsprachiger Text eigentlich ist. Denn Spannungen und Interferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachstandards (im Sinne von Polyphonie oder Heteroglossie) finden sich immer und überall, und es spricht vieles dafür, auch hier von Mehrsprachigkeit zu reden.
Von daher liegt es nahe, zu sagen, dass sich die Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit in erster Linie durch ihr spezifisches Interesse , durch ihre Fragerichtung und durch ihre Methodik auszeichnet, was nichts anderes bedeutet, als dass sie im Grunde eine neue disziplinäre Ausrichtung der Literaturwissenschaft mit sich bringt. Will man das damit entstehende Arbeitsfeld umreißen, muss man sich also in erster Linie der Methodik widmen, die seine Erschließung allererst möglich macht. Damit kommen die drei eingangs aufgezeigten Perspektiven ins Spiel, denn die Methodik einer literaturwissenschaftlichen Philologie der Mehrsprachigkeit hat einerseits das strukturelle Gefüge von Sprachdifferenzen im Text zu beschreiben, andererseits aber auch deren kulturpolitischen Einsatz.
b) Konzeption des Handbuchs
Aus diesen Vorüberlegungen leitet sich die Konzeption des Handbuchs ab: Geboten wird kein Überblick über den Gegenstand ›Mehrsprachige Literatur‹, sondern ein Überblick über die Voraussetzungen ihrer Analyse und über das Inventar an Verfahren, die für die Analyse zur Verfügung stehen. Das bedeutet unter anderem, dass ein Stück weit offengelassen wird, was Mehrsprachigkeit eigentlich ›ist‹. Relevanter erscheint demgegenüber die Frage, was auf welcher Grundlage als Mehrsprachigkeit oder sprachliche Vielfalt wahrgenommen wird. Aus linguistischer Perspektive ist es relativ unproblematisch, unterschiedliche Ebenen zu beschreiben, auf denen sich einzelne Idiome unterscheiden lassen – man kann dann etwa Dialekte, Soziolekte oder standardisierte Nationalsprachen voneinander abgrenzen. Von literarischer Mehrsprachigkeit kann man aber nicht nur dann sprechen, wenn sich in einem Text Segmente aus diversen derart voneinander unterschiedenen Idiomen finden, wenn also beispielsweise Deutsch und Französisch in dem Roman eines deutschen Nobelpreisträgers vorkommen oder wenn ein amerikanischer Romancier des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichen Soziolekte der amerikanischen Bevölkerung abzubilden versucht.
Beobachten lassen sich darüber hinaus beispielsweise Formen von ›latenter‹ Mehrsprachigkeit – so etwa dann, wenn gesagt wird, eine Person spreche jetzt Spanisch, die Worte, in denen man diese Rede vor sich sieht, aber klar dem Englischen zugehören. Aber auch die Verwendung ›fremdsprachlicher‹ metrischer Muster, die ›wörtliche Übersetzung‹ anderssprachiger idiomatischer Wendungen, die Verwendung übersetzter anderssprachiger Zitate – um nur einige Beispiele zu nennen – sind unter dem Schlagwort literarischer Mehrsprachigkeit zu diskutieren. Schließlich ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit in der Literaturwissenschaft nicht nur durch Übernahme linguistischer Begrifflichkeiten und Verfahren behandelt werden kann und darf, sondern dass sich die Verbindung dieser Begrifflichkeiten und Verfahren mit genuin philologischen anrät. Denn auch im Grunde nur als rhetorisch zu beschreibende Textverfahren – beispielsweise die freiwillige Beschränkung der französischen Schriftsprache auf alle Buchstaben außer dem ›e‹ – erzeugen Effekte, die denen der Verwendung einer anderen Sprache nahekommen. Im Einzelfall – und für den sollte sich Philologie ja interessieren – muss man neben der Vielfalt linguistischer ›Codes‹ im literarischen Text auch zu beschreiben versuchen, welchen rhetorischen, stilistischen, diskursiven oder sonstigen Strategien ihre Anwendung, Mischung und Dekonstruktion gehorcht.
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