Anne Fleig / Matthias Lüthjohann / Marion Acker
Affektivität und Mehrsprachigkeit
Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISBN 978-3-7720-8657-1 (Print)
ISBN 978-3-7720-0093-5 (ePub)
Affektivität und Mehrsprachigkeit – Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive
Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann
Affekt und Sprache sind eng miteinander verknüpft; Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Schon die alltägliche Rede vom ‚Sprachgefühl‘ bringt diese Verbindung deutlich zum Ausdruck, lässt aber auch Ambivalenzen und Spannungen anklingen. Das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit ist – so eine der Grundannahmen dieses Bandes – durch Verflechtungen charakterisiert, die sowohl die soziale Praxis als auch die Theorie betreffen. Sie sind gleichzeitig durch eine Spannung bestimmt, die einende und trennende Merkmale aufweist.
So scheint das Gefühl für die Sprache, insbesondere das der sogenannten Muttersprache, einerseits selbstverständlich gegeben zu sein, andererseits muss es erlernt werden: Ein Gefühl für eine Sprache zu entwickeln, schließt ein Nähe- und Vertrauensverhältnis ein; es meint, sich in einer Sprache ‚einzurichten‘ oder in ihr ‚anzukommen‘. Wird das Sprachgefühl dagegen irritiert, weil ‚falsche Töne‘ stören oder Distanz hervorrufen, kann gerade dadurch Reflexion angestoßen werden.
In jedem Fall bedeutet Mehrsprachigkeit eine Herausforderung für ‚das‘ Sprachgefühl. Stehen Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen in Austausch miteinander, erhält die Rede vom Sprachgefühl noch einmal andere Akzente: sei es als autoritäre Geste, die Anspruch auf Besitz und Deutungshoheit im Namen der ‚eigenen‘ Sprache oder gar der Muttersprache erhebt, sei es als neugieriges Gespür für Nuancen und Bedeutungsschichten, die ansonsten überhört werden. Schon die alltägliche Begriffsverwendung macht daher deutlich, dass das vermeintlich ‚eigene‘ Sprachgefühl so individuell nicht ist, sondern ein weitreichendes soziales Phänomen darstellt.1
Sprachkompetenz und Sprachgefühl bestimmen wesentlich über gesellschaftliche Teilhabe, sie regeln Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu Kultur und Öffentlichkeit, im Fall der Literatur auch den Zugang zum literarischen Feld und die Anerkennung als Autorin oder Autor. Die dem zugrunde liegenden Normen und Standards sind nicht nur selbst affektiv hoch besetzt, sie affizieren – in ästhetischer, politischer und sozialer Hinsicht – auch das Spiel oder den Bruch mit den Regeln, wie unlängst Tomer GardiGardi, Tomer in seinem Roman broken german vorgeführt hat.2
Doch sind Affektivität und Mehrsprachigkeit nicht nur über Fragen der Zugehörigkeit miteinander verbunden. Die in diesem Band versammelten Analysen zeigen anhand der Texte von Rose AusländerAusländer, Rose, Hugo BallBall, Hugo, Marica BodrožićBodrožić, Marica, Paul CelanCelan, Paul, Hélène CixousCixous, Hélène, Georges-Arthur GoldschmidtGoldschmidt, Georges-Arthur, Herta MüllerMüller, Herta, Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, Katja PetrowskajaPetrowskaja, Katja, Rafik SchamiSchami, Rafik, Rike SchefflerScheffler, Rike, Yoko TawadaTawada, Yoko und Tristan TzaraTzara, Tristan, um nur einige zu nennen, dass literarische Sprache in hohem Maße affektiv geprägt ist und selbst affektive Wirkungen entfaltet. Dies gilt für ihre Beziehung zur jeweiligen Biographie der Autorinnen und Autoren, zur lebensweltlichen Umgebung und ihren kulturellen wie gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch bezogen auf literarische Traditionen, Formen und Öffentlichkeiten. Das Wechselverhältnis von affektivem Gehalt und affektiver Wirkung bestimmt einzelne Worte oder Sätze ebenso wie die Entscheidung für die jeweilige Literatursprache und Reflexionen über die Sprachmischung oder den vollzogenen Sprachwechsel.
Mit Affektivität und Mehrsprachigkeit rücken darüber hinaus zwei Forschungsfelder in den Blick, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben,3 obwohl – oder gerade weil – ihr jeweiliger Gegenstand keineswegs klar konturiert ist.
Mehrsprachigkeit, Vielsprachigkeit, Zweisprachigkeit, Multilingualismus, Plurilingualismus, Translingualismsus, Heteroglossie, Exophonie, Code-Switching – die Begriffsliste der Mehrsprachigkeitsforschung ist lang.4 Die Vielzahl der Begriffe samt ihrer verschiedenen Bedeutungskomponenten verweist auf große Unterschiede in der mehrsprachigen Produktion von Literatur, ihren Bedingungen und ihren Formen, aber ebenso auf Unterschiede in ihrer Rezeption. Die Uneindeutigkeit ist jedoch weniger ein Ergebnis der (vor allem in der Germanistik noch jungen) Forschung als vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet: Mehrsprachigkeit ist ein schwer zu fassendes Phänomen mit einer langen Geschichte und einer erkenntnistheoretischen Reichweite, die die Bedingungen ihrer Erforschung einbeziehen muss. Insbesondere die Herausbildung der Nationalphilologien hat wesentlich dazu beigetragen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur in der europäischen Moderne an einem begrenzten Sprachraum und an einem einsprachigen Kanon orientiert war. Obwohl sich definitorisch kaum angeben lässt, was ein einsprachiger Text ist,5 blieb literarische Mehrsprachigkeit in den monolingualen Philologien ein Randphänomen oder gelangte erst gar nicht in den Blick.
Auch die Unterscheidung von Affekt, Affekten, Affektivität, Gefühl, Emotion und Emotionalität hat es in sich; die Liste der Begriffe ist zwar nicht ganz so lang, ihre Unterscheidung fällt aber umso schwerer und reicht gleichfalls an die Voraussetzungen ihrer Untersuchung heran. Konsens zumal der deutschsprachigen Forschung ist, dass die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Gefühle eng miteinander verwoben sind. Darüber hinaus wurde nicht nur das Sprachgefühl, sondern insbesondere die Sprache der Gefühle als Sprache des modernen Subjekts wesentlich durch Literatur geprägt.6
Während der enge Zusammenhang von literarischer Sprache und Gefühl also unbestritten ist, stellt sich das Verhältnis von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität als sehr viel kontroverser dar. So trägt die Verbindung von Sprache und Gefühl um 1800 wesentlich zur Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalfall der Moderne bei, der an die Naturalisierung der ‚Muttersprache‘ gebunden ist. Dieser Normalfall ist selbst affektiv aufgeladen: Die Muttersprache erscheint einerseits als abgeschlossener, vermeintlich natürlicher Ort ‚wahrer‘ Gefühle, auf der anderen Seite schließt die Einsprachigkeitsnorm Autorinnen und Autoren, deren sogenannte Muttersprache nicht Deutsch ist, aus dem traditionellen Gegenstandsbereich und dem Kanon der Deutschen Philologie aus.7
Um sprachliche Phänomene historischer, kultureller und sozialer Differenz überhaupt untersuchen zu können, musste die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung die Vorstellung unverstellter Gefühle, von Natürlichkeit und Unmittelbarkeit zunächst zurückweisen. Im Zuge des linguistic turn wurde die Vermitteltheit und diskursive Prägung literarischer Texte betont, die nicht zuletzt die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz in Frage stellt, die in der Norm der Muttersprache stets präsent ist. Im Anschluss daran nahm die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung seit den 1990er Jahren vor allem die Repräsentation von Emotionen und ihre sprachliche Codierung und Inszenierung in den Blick.
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