Christian Helmchen / Sílvia Melo-Pfeifer / Julia von Rosen
Mehrsprachigkeit in der Schule
Ausgangspunkte, unterrichtliche Herausforderungen und methodisch-didaktische Zielsetzungen
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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISSN 2197-6384
ISBN 978-3-8233-8305-5 (Print)
ISBN 978-3-8233-0290-2 (ePub)
Einleitung: Warum ein weiteres Buch über Mehrsprachigkeit in der Schule?
Sílvia Melo-Pfeifer / Julia von Rosen
1 Ausgangspunkte und Desiderate für eine erneute Forschungsagenda für die Mehrsprachigkeitsdidaktik
Die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die wir in diesem Buch nicht auf Interkomprehension reduzieren, sondern im Prinzip auf alle Pluralen Ansätze und andere pädagogische Herangehensweisen (wie „translanguaging“, García & Li 2014; für die pluralen Ansätze, Candelier et al . 2012; Melo-Pfeifer & Reimann 2018; für sprachübergreifende pädagogische Herangehensweisen Kirsch & Duarte 2020; Morkötter, Schmidt & Schröder-Sura, 2020) erweitern, hat in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Entwicklung erfahren, sowohl theoretisch als auch empirisch. Wie Hu feststellt, „ist gerade in den didaktischen Forschungsbereichen eine Hinwendung zu spezifisch mehrsprachigkeitsorientierten Ansätzen, die die traditionelle Ausrichtung auf eine sogenannte Zielsprache zugunsten einer mehrsprachigen Perspektive öffnen und die Sprachlernerfahrungen sowie die mehrsprachigen Praktiken der Lernenden wie z. B. Translanguaging als Lernpotential zu erkennen (Hu 2016, 11). Laut Lüdi bringen diese Forschungsentwicklungen zwei Neuerungen mit sich: „die Überwindung langlebiger Vorurteile, die auf der Basis einer „Ideologie der Einsprachigkeit“ in der sprachlichen Vielfalt Nachteile für die Kohäsion der Gesellschaft und für die Einheit der Persönlichkeit befürchteten“ (Lüdi 2018, 134) und „[den] Abschied von der Vorstellung der „doppelten Einsprachigkeit“ (ibidem).
Angesichts der Fülle an innovativen Forschungsprojekten im nationalen und internationalen Kontext, die alle auf der Einsicht in die vielfältige Relevanz von Mehrsprachigkeitsdidaktik beruhen, ist es erstaunlich zu beobachten, dass eine dauerhafte Diskrepanz zwischen politischen und theoretischen Aufforderungen zur systematischen Implementierung vernetzten Sprachenlernens im Fremdsprachenunterricht gegenüber einer alltäglichen Praxis der Lehrkräfte besteht, die so stabil wie immer zu sein scheint, obwohl Studien gezeigt haben, dass zahlreiche Lehrkräfte eine positive Einstellung gegenüber individueller, gesellschaftlicher und schulischer Mehrsprachigkeit haben (Heyder & Schädlich 2014; Lundberg 2020; Melo-Pfeifer 2020). Dieses Phänomen genauer zu verstehen und nach Lösungsansätzen zu suchen, ist ein erklärtes Ziel dieses Bandes.
Im Bereich der Sprachendidaktik haben sich in der Fachliteratur einige spezielle Bereiche herauskristallisiert, von der Untersuchung der Vorstellungen von Lehrkräften und Schüler*innen über Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Didaktik bis hin zu wahrgenommenen und realen Schwierigkeiten bei der Integration von Mehrsprachigkeit in verschiedenen Unterrichtssettings und Fächern und der Notwendigkeit, Lehrkräfteausbildungsprogramme zu implementieren, die besser in der Lage sind, die Kompetenzen, das Wissen und die Einstellungen von Lehrkräften zu entwickeln, um Mehrsprachigkeitsdidaktik als zeitgemäße Pädagogik anzunehmen (z. B. Vetter 2013).
Das bedeutet, dass die Forschung, um die Persistenz des monolingualen Habitus (Gogolin 1994) im Fremdsprachenunterricht zu verstehen, über den üblichen Forschungsapparat und -modus hinausgehen muss. Statt selbstberichteter Praktiken und Einstellungen von Lehrkräften und Schüler*innen durch Interviews und Fragebögen könnten neue Erkenntnisse aus der direkten Beobachtung des Fremdsprachenunterrichts gewonnen werden, nämlich daraus, wie Lehrkräfte mit mehrsprachigen Ressourcen arbeiten bzw. wie sie tatsächlich mit mehrsprachigen Kontexten und mehrsprachigen Schüler*innen umgehen. Auch die Wirksamkeit mehrsprachiger Didaktik beim Fremdsprachenlernen ist noch schlecht erforscht, und abgesehen von kurzfristigen und kleinräumigen empirischen Studien fehlt es noch an empirischen Belegen für die Nachhaltigkeit mehrsprachigkeitsorientierter Ansätze für die Entwicklung von fremdsprachlichen Kompetenzen der Lernenden im schulischen Kontext. Trotz des Wunschdenkens und der erneuerten Diskurse (die von einer unausweichlichen Normativität geprägt sind) rund um Mehrsprachigkeit sind die monolingualen Praktiken im Klassenzimmer also die widerständigen „Gaulois“ in der Arena der widersprüchlichen didaktischen und pädagogischen Theorien, der Lehrer*innenpraktiken, der Fremdsprachenunterrichtspolitik und der gesellschaftlichen Perspektiven und Diskurse.
Eine weitere, noch unzureichend beantwortete Frage betrifft die Bewertung mehrsprachiger Repertoires, die Evaluation mit mehrsprachigen Ansätzen und die Instrumente, die es erlauben, eine monolinguale Denkweise in der Praxis und der Bewertung zu überwinden. Trotz der Aufforderung an Lehrkräfte, schulische und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit zu nutzen, um das Sprachenlernen zu verbessern, werden die Verwendung von Lehrmaterialien und die Praxis der Bewertung durch einen fortgesetzten monolingualen Habitus ausgebremst, der wenig Platz für einen „multilingual turn“ (May 2014) in der Sprachausbildung lässt (vgl. Hülsmann, Ollivier & Strasser 2020, für Innovationen in Bereich Interkomprehension und Bewertung).
Hinzu kommt, dass trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeitsdidaktik praktizierte Mehrsprachigkeit in der Regel nicht von den Lehrkräften selbst dargestellt wird, die solche pädagogischen Konzepte umsetzen, und auch nicht aus einer Perspektive, die die Überschneidungen zwischen den mehrsprachigen Repertoires der Schüler*innen, ihrem Geschlecht und ihrer soziokulturellen Identität berücksichtigt. Diese Themen werden in einigen Beiträgen dieser Publikation behandelt. Das bedeutet, dass die Forschung über Mehrsprachigkeitsdidaktik und plurilinguale Ansätze eher ohne Lehrkräfte als Mitforschende entwickelt wurde. In dieser Publikation wollen wir dieser Tendenz entgegenwirken, indem wir Berichte von Lehrkräften aus ihrer eigenen Praxis vorstellen, indem sie entweder auf die Perspektive der Aktionsforschung zurückgreifen oder eine autoethnographische Haltung (Chang 2008) einnehmen. Der Fragenkomplex, wie sich Mehrsprachigkeit mit anderen Aspekten individueller Identitäten überschneidet, wird in dieser Publikation als ein Forschungsfeld in den Vordergrund gerückt, das weiterentwickelt werden sollte.
Als Forschungsdesiderate sehen wir ebenfalls die präzise Beobachtung des dynamischen Geschehens im Klassenzimmer in mehrsprachigen und interkulturellen Settings, die unter einer kaleidoskopischen Perspektive erfolgen sollte, um genauer zu analysieren, wie Integration, Diskriminierung, Machtverhältnisse und Hierarchien im Sprachunterricht etabliert werden, die aus der Beziehung zwischen Sprecher*innen unterschiedlicher Sprachen (wo wir sowohl die Schülerschaft, Lehrkräfte aber z. B. auch Eltern inkludieren) hervorgehen. Auch wenn Studien zu den Auswirkungen von Geschlecht, sexueller Orientierung, soziokultureller Identität und Ethnie sowie Mehrsprachigkeit getrennt voneinander zu vielen validen Ergebnissen darüber kommen, wie sich Machtdynamiken entwickeln und ausgeübt werden, haben die Studien zur Mehrsprachigkeit überwiegend Fragen analysiert, die sich „nur“ auf die Sprache(n) – und nicht so sehr auf Sprachvarietäten – beziehen. Obwohl dies ein aus unserer Sicht gültiger Standpunkt ist, behaupten wir, dass diese Studien davon profitieren könnten, andere, erweiterte Perspektiven einzunehmen, wie z. B. die der „raciolinguistic perspective“ (Rosa & Flores 2017).
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